Judentum:Wo die Ewigkeit keine Illusion mehr ist

In Ferrara hat ein nationales Museum des italienischen Judentums und der Schoah eröffnet. Es soll die Geschichte einer Migration erzählen.

Von Thomas Steinfeld

Das Buch "Die Gärten der Finzi-Contini" (1962), der Roman, mit dem der Schriftsteller Giorgio Bassani weltberühmt wurde, beginnt mit einem Besuch auf einem Friedhof der Etrusker außerhalb von Rom. "Hatte man die Schwelle des Friedhofs überschritten", berichtet der Erzähler, "wo ein jeder von ihnen ein zweites Haus besaß, in dem er schon das Lager bereitet hatte, auf dem er bald neben den Vätern ruhen würde, konnte die Ewigkeit nicht länger eine Illusion bleiben." An diesen Gedanken heften sich Erinnerungen. Sie führen den Erzähler zurück nach Ferrara, in seine Kindheit und Jugend, zurück zum jüdischen Friedhof am Ende der Via Montebello und zur monumentalen Gruft der (fiktiven) Familie, deren letzter Generation der Roman gewidmet ist. Denn die Finzi-Contini überleben den Holocaust nicht: Er wisse nicht, sagt der Erzähler, ob die verehrte Micòl, ihre Eltern, ihre Großmutter, die alle im Herbst 1943 nach Deutschland deportiert wurden, "überhaupt ein Grab gefunden haben". Fast 200 Juden aus Ferrara wurden zu jener Zeit nach Deutschland gebracht. Nur einer kehrte zurück.

Schon lange hatte es in Italien Pläne gegeben, ein nationales jüdisches Museum zu schaffen. Ursprünglich hätte es in Rom stehen sollen. Dass es dann in Ferrara gebaut wurde, scheint viele Gründe zu haben: die Geschichte der Stadt als eines der Zentren des italienischen Judentums, in dem nicht nur das Ghetto, sondern auch drei Synagogenbauten erhalten sind, die Verfügbarkeit eines passenden Geländes, aber auch die Verbindung zu den "Gärten der Finzi-Contini" und dem Autor dieses Buches, der in Ferrara aufwuchs und auf dem jüdischen Friedhof der Stadt begraben ist - einem eindrucksvollen, innerhalb der Mauern gelegenen Friedhof, einem verwilderten Garten ähnlich.

Und auch das neue, Ende Dezember eröffnete jüdische Museum ist von Mauern umschlossen: nicht nur, weil dessen Gelände ebenfalls an die Stadtmauer grenzt, sondern vor allem, weil in seiner Mitte das ehemalige Gefängnis der Stadt steht, dasselbe Gefängnis, in dem Giorgio Bassani im Jahr 1943 inhaftiert war, antifaschistischer Umtriebe wegen. "Meis" heißt das Museum nun, oder ausgeschrieben: "Museo Nazionale dell'Ebraismo italiano e della Shoah", nationales Museum des italienischen Judentums und der Schoah.

Den lang gestreckten Bau gab es schon. Er gestattete keine symbolische Architektur

Das ehemalige Gefängnis von Ferrara ist ein um 1912 entstandener Komplex aus zwei- und dreistöckigen Bauten. Für das neue Museum wurde zunächst eines dieser Gebäude umgestaltet, fünf Neubauten sollen bis 2020 folgen. Doch schon an diesem ersten Teil ist zu erkennen, dass diese Anlage anders sein wird als die in jüngerer Zeit entstandenen jüdischen Museen, die Häuser in Berlin, München, Warschau oder San Francisco etwa. Denn der schmale, lang gestreckte Bau war schon da. Er gestattete keine symbolische Architektur, sondern das Museum musste in den vorhandenen Körper hineingesetzt werden. Entstanden ist daraus ein Parcours aus kleinen, allenfalls mittelgroßen, aber hellen Sälen, die oft versetzt zueinander angelegt sind. Verloren geht dabei eine der gewöhnlichen Museumserfahrungen: das Betrachten der anderen Besucher und das Sich-selbst-betrachten in der Gemeinde der Betrachter. Gewonnen wird dabei eine Intimität, die eher einem Wohnbau zuzugehören scheint - oder einem nach innen gewendeten, fast fensterlosen Komplex von Wohnungen. Der Eindruck wird verstärkt durch den sparsamen Umgang mit den Exponaten der Ausstellung, mit der das Museum eröffnet wird: Oft ist der Besucher mit zwei, drei Gegenständen allein.

Das neue jüdische Museum in Ferrara ist kein Museum des Holocaust, wie etwa das "Museo monumento al deportato", das "Museum der Deportation" im nahegelegenen Carpi. Es ist auch kein jüdisches Museum wie das im Ghetto von Venedig, das, allein schon durch seine Lage, zugleich Gedenkstätte ist (ein solches Museum gibt es auch in Ferrara, doch ist es gegenwärtig geschlossen). Das "Meis" soll vielmehr die Geschichte einer Migration wie eines oft prekären In- und Miteinanders einer jüdischen Volksgruppe in wechselnden italienischen Umgebungen dokumentieren. Es ist deswegen programmatisch zu verstehen, wenn die erste Ausstellung - sie wird noch bis zum 16. September zu sehen sein - den ersten tausend Jahren der Juden auf der italienischen Halbinsel gewidmet ist, beginnend mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem und der Entstehung der europäischen Diaspora, endend mit den ersten systematischen Judenverfolgungen, die mit den Kreuzzügen einsetzen.

Die intime Form der Darbietung rückt die Ausstellung an die Gegenwart heran

Der Migrationswege sind hier dokumentiert und die Kommunikation unter den jüdischen Gemeinden; immer wieder wird darauf verwiesen, dass sich die Juden - im Unterschied etwa zu den Langobarden oder den Normannen - nicht assimilierten. Es gibt Grabplatten zu sehen, Öllampen, Schmuck, Mosaike mit religiösen Motiven, Schriftstücke; es wird viel erklärt, vor allem auf Schautafeln. Die intime Form der Darbietung rückt die Ausstellung dabei an die Gegenwart heran: Der Vergleich mit gegenwärtigen Wanderungen ganzer Volksgruppen ist offenbar ebenso gewollt wie die Imagination von Lebensmöglichkeiten, die sich mit der Anlage des Museums verknüpft. Hier kann, so erscheint es, die Ewigkeit nun wirklich keine Illusion mehr bleiben, für die Juden, die ein Grab haben, wie auch, mehr noch, für die Juden, denen keines gegeben wurde.

Judentum: Ein Nachbau der Katakomben der Vigna Randanini in Rom ist in Ferrara zu sehen.

Ein Nachbau der Katakomben der Vigna Randanini in Rom ist in Ferrara zu sehen.

(Foto: Marco Caselli Nirmal)

Vom Ende einer jüdischen Familie in Italien erzählt Giorgio Bassani in seinem Roman, auf eine stille, behutsame Weise, in der sich das Verhängnis aus lauter Irrtümern, kleinen und großen, entwickelt. Gewiss, es sind am Ende die Deutschen, die Micòl und ihre Familie ermorden. Aber bis es so weit kommt, gibt es "moderne Juden", die begeisterte Faschisten werden, halbaristokratische Juden, die sich in neugotischen Palästen unangreifbar wähnen, nicht jüdische Italiener, die zu Antisemiten werden, wenn es von ihnen erwartet wird. Der von hohen Mauern umgebene Garten ist die zur Realität gewordene Metapher, die sie alle verbindet: ein Paradies, in das man gelockt und aus dem man verstoßen werden kann, ein Ort, an dem man sich geschützt glaubt, der sich dann aber als Kerker entpuppt. Das Gefängnis, das zum Museum wird, ist ein seltsam sinniges Gegenüber zu diesem Garten: Während dieser sich schließt, öffnet sich jenes.

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