Jubilar:In unfreier Natur

Jubilar: Er ist ein ziemlich schlauer Vogel, ein Ökologe der ersten Stunde, er lässt uns am Abenteuer des Beobachtens teilhaben: Josef H. Reichholf.

Er ist ein ziemlich schlauer Vogel, ein Ökologe der ersten Stunde, er lässt uns am Abenteuer des Beobachtens teilhaben: Josef H. Reichholf.

(Foto: Imago)

Kaum einer bringt dem Kulturwesen Mensch besser die Tiere nahe: Der Evolutionsbiologe Josef Reichholf ist ein schlauer Vogel. Jetzt wird er siebzig.

Von Jens Bisky

Innige Liebe zur Natur ist den Deutschen oft nachgesagt worden. "Durch Wald und Feld zu schweifen" - so der Anfang von Franz Schuberts Lied "Der Musensohn" - verheißt ein besonderes Glück. Doch rasch stößt der Schweifende auf Verbotszeichen. Da darf er nicht lang und dort nicht hin; frei sind Feld und Wald in erster Linie für die Land- und Forstwirtschaft.

"Das Land" hat, so kritisiert der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf in einem Aufsatz mit dem Titel "Naturschutz: Betreten verboten!", wirksame Mittel entwickelt, den Zugang zur "freien Natur" für die Mehrheit so einzuschränken, dass sie praktisch unzugänglich bleibt. Stattdessen einen jeden an Natur heranzuführen, uns die Augen zu öffnen für ihre überbordende Fülle, sie als Reich der Möglichkeiten und der Veränderung zu entdecken - dies war und ist das Programm von Josef Reichholf.

Die Landwirtschaft zerstört die Artenvielfalt. Diese flieht in die Stadt

Im Urstromtal des Inn hat er, der 1945 im niederbayerischen Aigen geboren wurde, seine Naturerkundungen begonnen. Auf das Studium der Biologie, Chemie, Geografie und Tropenmedizin folgte ein Forschungsaufenthalt in Brasilien. Josef Reichholf gehörte zu den Mitbegründern der "Gruppe Ökologie", damals in den frühen Siebzigern, als dieses Thema noch kein allgemein anerkanntes war. Er lehrte an beiden Münchner Universitäten und leitete die Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München. Die größte Wirkung hatten Reichholfs zahlreichen Bücher für das allgemeine Publikum. Mit "Der blaue Planet" (1998), "Die Zukunft der Arten" (2005), "Stadtnatur" (2007), "Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends" (2007),"Stabile Ungleichgewichte" (2008), "Ornis" (2014), mit vielen weiteren Schriften, Artikeln und Vorträgen beförderte er ebenso lehrreich wie vergnüglich die Urbanisierung des deutschen Naturdiskurses.

Als höflicher Autor neigt Josef Reichholf zu starken Thesen. Seine Kritik am "Katastrophismus" der Klimaschutzbewegung, seine Forderung an Naturschützer überhaupt, ihr Bild der Natur und ihre Ziele zu überdenken, blieben nicht unwidersprochen. Dass aber die Landwirtschaft, so wie sie derzeit betrieben wird, eine der größten Gefahren für die Artenvielfalt ist, dass in den Städten, allen voran in der "Hauptstadt der Nachtigallen" Berlin, überwältigend viele unterschiedliche Tiere leben, mehr als in manchem Naturschutzgebiet, dass Großstädte "zur rettenden Insel" für Tiere geworden sind, diese und andere gut begründete Behauptungen Reichholfs sind inzwischen Allgemeinbesitz.

Ein Grund dafür dürfte sein, dass Reichholf eine ungemein anschauliche, literarisch überzeugende Prosa schreibt. Statt in die Trickkiste der Popularisierung zu greifen, lässt er seine Leser am Abenteuer des Beobachtens und Erkennens teilhaben - nicht nur von schlauen Vögeln. "Jetzt entdecke ich was" ist das Grundgefühl, wenn man ihn liest. Dies gilt gerade für seine Versuche, Natur und Kultur gemeinsam zu beleuchten. So sieht er in der Freude am Alkoholrausch den entscheidenden Antrieb dafür, dass Menschen sesshaft, dass aus Jägern und Sammlern Ackerbauern wurden.

Eines seiner interessantesten Bücher hat er der Schönheit und dem Problem der "sexuellen Selektion" gewidmet ("Der Ursprung der Schönheit. Darwins größtes Dilemma", 2011). Reichholf geht, wie es in Naturgeschichte und Anthropologie notwendig ist, kühn vor: Er hebt immer wieder die Ähnlichkeiten zwischen dem Kulturwesen Mensch und den Naturwesen der Tierwelt hervor, relativiert andererseits aber für das Reich der Tiere die Vorstellung einer mechanischen Notwendigkeit. Was wir Selektion und Anpassung nennen, ist ein sehr komplexer, nicht auf einen Faktor zurückzuführender Vorgang. Es sich nicht zu einfach zu machen, genau zu beobachten, lieb gewonnene Meinungen immer wieder zu prüfen - auch das kann man von Josef Reichholf lernen. An diesem Freitag feiert er seinen 70. Geburtstag.

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