Süddeutsche Zeitung

Jubiläums-Ausgabe:"Tempo" feiert sich selbst

Ich-Kultur mit einem Schuss Größenwahn - so zeigte sich die Zeitschrift bei ihrer Gründung vor 20 Jahren. Auch in der Sondernummer wird wieder superlativisch gekreischt.

Willi Winkler

Das Klassentreffen ist die Stunde der Wahrheit. Ach, ist der aber alt geworden, und Sibylle hat da doch was machen lassen, und Karl, war der eigentlich damals auch schon so komisch?

Beim Klassentreffen wird verglichen - mein Haus, mein Auto, meine Frau -, bis sich das Gespräch zwanglos der Vergangenheit zuwendet, und dann quillt eine kleine Träne, denn, nicht wahr, schön war's doch.

Die Zeitschrift Tempo, vor zwanzig Jahren gegründet, vor zehn Jahren eingestellt, hat ihr Klassentreffen in Form eines Jubelheftes veranstaltet. Der Titel verspricht: "Endlich! Die Wahrheit!", und wie immer bei Klassentreffen wird gelogen, dass sich die Schulbänke biegen.

"Das Wort 'ich' gab es damals im deutschen Journalismus nicht", behauptet der erste Tempo-Chefredakteur Markus Peichl kühn - und will es höchstpersönlich eingeführt haben.

Einfach erwachsener als Tempo

Mit dem Geld und sehr viel Sympathie des Hamburger Verlegers Thomas Ganske (Für Sie, Petra) durfte er damals eine gehobene Schülerzeitung machen, die von vorne bis hinten "Ich!", "Ich!", "Ich!" schrie und an der den größten Spaß deshalb die Macher selbst hatten.

Peichl überzog chronisch den Erscheinungstermin und Tempo kostete den Verleger Ganske dem Vernehmen nach 30 Millionen Mark. Als es 1996 nach fünf Chefredakteuren und bei einer echten Verkaufsauflage von weniger als 40 000 Stück vorbei war mit Tempo, erklärte der "Hundert-Zeilen-Hass"-Kolunist Maxim Biller, er würde gern bei einer "Zeitschrift arbeiten, die einfach erwachsener ist als Tempo".

Das war schon damals nicht überraschend, denn Tempo war die Zeitschrift der "rasenden Mitläufer" (wie das der leider vergessene Kulturkritiker Christian Schulz-Gerstein nannte).

Tempo wollte um jeden Preis jung und unerwachsen sein, riskierte aber nie mehr als eine längere Modestrecke. Die Kurzbiografien unter den Beiträgen der aktuellen Geburtstagssondernummer sind deshalb auch allesamt Erfolgsgeschichten; bitte, Ressortleiter ist das Mindeste, was die alten Mitarbeiter geworden sind.

Seltsamer, kerndeutscher Kommandostil

Peichl und Ganske dürfen stolz sein auf ihre Musterschüler. Da Peichl selber seine schaumschlägerische Begabung zwischenzeitlich als Redaktionsleiter für die Beckmannschen Umarmungsinterviews in der ARD herunterdimmen musste, wird man verstehen, dass er es sich und allen noch mal zeigen wollte.

Im Jubiläumsheft hat sich nichts verändert. Es wird immer noch superlativisch gekreischt, und in der "Gebrauchsanweisung für die nächsten zehn Jahre" herrscht wie 1986 ff. dieser seltsame, kerndeutsche Kommandostil: "Was anders werden muss." Muss es wirklich?

Nach wie vor klingen die Autoren wie Schülerzeitungsredakteure, die eine Raucherecke für den Schulhof fordern. Auf dem Titelbild raucht Kate Moss, die doch sonst Drogen in anderer Form zu sich nimmt.

Ein bisschen läppisch ist die politische Fleischeinwaage, der Versuch, mit Sätzen aus ,Mein Kampf' Ehrendoktorate zu verleihen, auf die staatlich geprüfte Dummermänner wie Udo Walz, Gotthilf Fischer und Dieter Bohlen natürlich hereinfallen.

Ein bisschen Slum in Europa

Der Berliner Bürgermeister, der im Moment alles falsch macht, wird zum nächsten Kanzler hochgeschrieben, Herbert Grönemeyer spricht mit Tokio Hotel, ein bisschen Slum in Europa ist dabei, dazu Mediengrößen wie Matthias Matussek und Kai Diekmann als Eigenlob-Paparazzi, Internet-Sex im Selbstversuch sowie unendlich viele Anzeigen.

Und die Bilder? Sind wie früher das Beste im Heft. Das in den vergangenen zehn Jahren angeblich in Kriegen vergossene Blut füllt sehr rot zwei Schwimmbäder - aber war Tempo dabei, als Soldaten starben und hat die Blutmenge live gemessen?

Da hätte doch der Medizin-Dr. Rainald Goetz widersprechen müssen, wenn sein Jubiläumsbeitrag das Prädikat "der einzige wirkliche Schriftsteller unserer Generation" auch nicht ganz rechtfertigt. 1,7 Millionen Hostien sollen seit 1996 im Kölner Dom ausgeteilt worden sein, und wirklich regnet es - weiß wie Manna - durch ein Kirchenschiff.

Groß-Hysteriker Biller

Aber, was soll das sein? Echte Hostien etwa? Der Kölner Dom? Das müsste doch wenigstens jenen Tempo-Veteranen seltsam vorkommen, die sich vor fünfzehn, zwanzig Jahren als schöne Barbaren inszenierten und heute - einmal Mitläufer, immer Opportunist - die "Neue Bürgerlichkeit" inklusive Tischgebet und Papst-Verherrlichung feiern.

Merkwürdig nur, dass ausgerechnet der größte Streber von allen, der Groß-Hysteriker Maxim Biller, den einzigen nennenswerten Beitrag geliefert hat. In seinen "Hundert Zeilen Hass" geißelt er vom neuen deutschen Patriotismus über den "nationalrevolutionären Eifer" beim Günter-Grass-Verhauen bis zur peinlichen Heiligsprechung Joachim Fests das ganze neue Deutschland. Nach diesem "schwarzen Sommer", wie er das nennt, hat Biller ganz einfach beschlossen, "aus Deutschland wegzugehen".

Ob's aber wahr ist?

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SZ vom 9.12.2006
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