Kolumbianische Literatur:Die Abgründe der Carrera Séptima

Kolumbiens Schicksal im 20. Jahrhundert war geprägt von zwei politischen Morden. Jetzt hat Juan Gabriel Vásquez einen Roman darüber geschrieben, über Bürgerkrieg, Chaos und Versöhnung.

Von Ralph Hammerthaler

Als Jorge Eliécer Gaitán am 9. April 1948 seine Kanzlei in Bogotá verließ und auf den Boulevard der Carrera Séptima trat, wurden, kaum dass er ein paar Schritte gegangen war, vier Schüsse auf ihn abgefeuert. Tödlich getroffen stürzte er nieder. Kurz darauf wurde der Täter von der Polizei geschnappt und in einer Apotheke in Sicherheit gebracht - vor dem aufflammenden Volkszorn. Aber es half nichts. Sie lynchten den Täter. Sie zerrten ihn auf die Straße, trampelten auf ihm herum und schlugen auf ihn ein mit allem, was da war, auch mit den Kisten der Schuhputzer. Dann zogen sie den Toten aus und schleiften ihn vor den Palast des Präsidenten, um ihren Abscheu zu bekunden.

Mit Gaitán starb die Hoffnung des einfachen Volkes, der Erniedrigten und Beleidigten in einem zerrütteten Kolumbien. Woche für Woche waren sie ins Theater gepilgert, um am Freitag seine Reden zu hören. Die übrigen hockten zu Hause vorm Radio. Gaitán hatte alle Chancen gehabt, der nächste Präsidentschaftskandidat der Liberalen zu werden. Und die Herrschaft der Konservativen zu brechen. Während Frauen auf der Séptima ihre Taschentücher noch in sein Blut tunkten, witterten viele bereits eine politische Verschwörung und fragten nach den Hintermännern. In den Tagen nach dem Attentat herrschte Chaos in Bogotá, Gewalt und Tod.

Geschäfte wurden geplündert und gingen in Flammen auf. Städtische Polizisten liefen zu den Liberalen über, sodass die konservative Regierung nach Einheiten aus der Provinz verlangte. Rund achttausend Menschen verloren ihr Leben. Diese Tage waren der Auftakt zu einem zehn Jahre währenden Bürgerkrieg zwischen Konservativen und Liberalen, die Zeit der Violencia. Und es wäre nicht verkehrt, auch den jahrzehntelangen Guerillakampf in dieser Linie zu sehen. Erst vor zwei Jahren wurde ein Friedensvertrag zwischen Staat und Guerilla unterzeichnet und mit dem Friedensnobelpreis bedacht.

Kolumbianische Literatur: Überall in Bogota finden sich Würdigungen des ermordeten Jorge Eliecer Gaitan.

Überall in Bogota finden sich Würdigungen des ermordeten Jorge Eliecer Gaitan.

(Foto: mauritius images)

Einleuchtend bringt Juan Gabriel Vásquez in seinem Roman "Die Gestalt der Ruinen" das Attentat auf Gaitán mit dem Attentat auf John F. Kennedy zusammen. Da wie dort sprachen sie offiziell von einem Einzeltäter; da wie dort wurden Zweifel laut; da wie dort häuften sich Spekulationen über eine politische Verschwörung. In den Thrillerszenen des Romans fühlt man sich wie im Kino, sagen wir, bei "JFK" von Oliver Stone.

Nach dem Mord die Chaostage

Was die Verschwörungstheorie betrifft, so hat auch Gabriel García Márquez dazu beigetragen. In dem stärksten Kapitel seiner Memoiren "Leben, um davon zu erzählen" bezieht er sich auf den 9. April 1948. Damals lebte er als Jurastudent in Bogotá und wurde Augenzeuge wenn schon nicht des Attentats, so doch des darauffolgenden Lynchmordes und der Chaostage: "Fünfzig Jahre später ist meine Erinnerung immer noch auf das Bild eines Mannes fixiert, der die Menge vor der Apotheke aufputschte und dem ich in keinem der unzähligen Zeugnisse, die ich über diesen Tag gelesen habe, begegnet bin. Ich hatte ihn ganz aus der Nähe gesehen, in seinem edlen Anzug, der alabasterfarbenen Haut und seinem genau kontrollierten Auftreten. Er hatte meine Aufmerksamkeit so sehr gefesselt, dass ich ihn nicht aus den Augen ließ, bis man ihn, kaum war die Leiche des Mörders weggeschleift worden, in einem neuen Automobil abholte." Diese Beobachtung lässt Vásquez gekonnt in seinen Roman einfließen.

Eine Figur, die fast irre wird an der Vorstellung einer Verschwörung, heißt Carlos Carballo. Er will Juan Gabriel Vásquez, der als er selbst im Roman auftritt, dazu bringen, die andere Geschichte des 9. April 1948 zu erzählen, die mit Macht unterdrückte, die verschwiegene. Aber Vásquez, durch und durch argwöhnisch gegenüber Wahnideen, die jedes stichhaltigen Beweises entbehren, lässt sich erst gar nicht, dann nur mit langem Zögern darauf ein. Es wirkt herrlich vertrackt, dass hier eine Wahnidee in die Nachbarschaft der intellektuellen Skepsis rückt. Wer will sich schon etwas vormachen lassen? Und überhaupt, was lässt sich mit Sicherheit sagen? Offen gestanden: nichts.

Als Junge erlebte er den Bombenterror

Vásquez zählt zu jenen Autoren, die es nicht für nötig halten, ihren Büchern ein literarisches Ich einzuschreiben. Denn sie haben ja ein tatsächliches Ich, das es genauso gut tut und eine diffuse Eitelkeit bedient. Schnell fallen einem die Namen von Javier Cercas oder Emmanuel Carrère dazu ein. Alle drei sind große Erzähler und große Stilisten, und sie hätten das ganze Getue ums Ich gar nicht nötig, mit dem sie ihre Romane streckenweise ins banal Journalistische ziehen. Im Anhang bedankt sich Vásquez bei Cercas, ohne zu sagen, wofür, und Cercas wiederum bringt es fertig, mitten in einem seiner Romane einen Roman Carrères als Meisterwerk zu preisen.

Dieses Ich-Kartell trägt Züge einer modischen Attitüde. Gewonnen ist damit nichts. Der 1973 in Bogotá geborene Vásquez, immerhin, blickt schon auf ein Leben zurück, das verdächtig nach einem Roman klingt. In jungen Jahren erlebte er den Bombenterror, mit dem der Drogenboss Pablo Escobar in den 1990er-Jahren die kolumbianischen Städte heimsuchte. Einmal kam er nur knapp mit dem Leben davon. Dann floh er für lange Jahre nach Spanien, ließ sich in Barcelona nieder. Heute lebt er mit seiner Familie wieder in Bogotá. International bekannt wurde er mit seinem Roman "Die Informanten" (2004, dt. 2010), der eine abgründige Vater-Sohn-Beziehung mit der Geschichte jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland verbindet, die in Kolumbien auf Landsleute treffen, die den NS-Staat bewundern.

Kolumbianische Literatur: Juan Gabriel Vásquez: Die Gestalt der Ruinen. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 528 Seiten, 26 Euro.

Juan Gabriel Vásquez: Die Gestalt der Ruinen. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 528 Seiten, 26 Euro.

(Foto: Verlag)

In der Mitte des neuen Romans werden einem zweiten politischen Mord neben dem an Gaitán viele Seiten eingeräumt, geschehen im Jahr 1914, auch damals war das Opfer ein großer liberaler Politiker des Landes, nämlich Rafael Uribe Uribe, auch damals war die Carrera Séptima der Schauplatz der Tat, auch damals gab es eine Unmenge von Spekulationen über mögliche Hintermänner, elegante Herren aus konservativen Kreisen, die, Zeugenaussagen zufolge, mit den Tätern kurz vor dem Mord gesehen worden sind.

Offensichtliche Parallelen

Verübt hatten diesen Anschlag zwei Handwerker, mit Äxten, die sie unter dem Poncho hervorzogen, also archaisch brutal. Ein junger Anwalt setzte alles daran, die Hintergründe aufzudecken. Doch vor Gericht scheiterte er kläglich, weil er nicht imstande war, Namen zu nennen. Kurz zuvor hatte er seine Thesen über die Verschwörung in einem Buch herausgebracht. Es hieß "Quienes son?" Wer sind sie? Das ist die Frage.

Vásquez erzählt die Uribe-Uribe-Episode erst ohne Ich-Vásquez, um sich später, nicht ganz konsequent, dann doch einzumischen, durch ein Gespräch mit Carlos Carballo, der hinter allem eine Verschwörung vermutet. Carballo fordert ihn auf, "Quienes son?" zu lesen, in der Hoffnung, ihn dadurch für ein Buch über Gaitán zu gewinnen, das derselben Frage nachgeht. Wer sind sie? Zu offensichtlich seien die Parallelen. Auf den Wegen der Alltagskriminellen hat sich Carballo die Reliquien zu beiden Fällen verschafft, einen konservierten Wirbel von Gaitán, mit Einschussloch, und die von einer Axt gespaltene Schädeldecke von Uribe Uribe.

Damit habe alles angefangen, hat Vásquez in einem Interview verraten. In Bogotá legte ihm ein Chirurg diese Reliquien vor, Zeugnisse von Attentaten, die so viel Unheil über das Land gebracht hatten.

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