Es war ein Ereignis, wie es wenige gab in der Geschichte des deutschen Fernsehens: Zwei prominente Journalisten stritten sich vor laufender Kamera, stritten über die deutsche Vergangenheit, darum, wer wen verleumdete, wem es um die Wahrheit gehe und wer nur Propaganda betreibe.
Als wäre es ein amerikanischer Gerichtsfilm, bekämpften sich am 16. Dezember 1970 der linksliberale Henri Nannen, damals Chefredakteur des Stern, und Gerhard Löwenthal, der, vorsichtig gesagt, radikalkonservative Moderator des ZDF-Magazins, plädierten 47 Minuten lang und mussten sich dann beide erschöpft dem immer wieder hinausgeschobenen Sendeschluss ergeben.
Vordergründig ging es in dem Streitgespräch darum, ob Hans Weidemann, beim Stern zuständig für die auch heute noch bestehende Aktion "Jugend forscht", im Jahr 1944 in Italien an der Erschießung von Partisanen beteiligt gewesen war und sein damaliger Untergebener Nannen womöglich ebenfalls. Für die beiden Kontrahenten stand aber viel mehr auf dem Spiel: Löwenthal kritisierte als Sekundant Axel Springers die Politik der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt, der eine Aussöhnung mit dem Ostblock anstrebte und im Warschauer Vertrag die Oder-Neiße-Linie soeben als polnische Westgrenze anerkannt hatte. Nannen und der Stern unterstützten Brandt, Löwenthal und Springer bekämpften ihn mit allen Mitteln.
"Größter Erfolg als Mann und Journalist"
Das war die Steinzeit des deutschen Fernsehens, es durfte nach Herzenslust geraucht werden, und vielleicht konnten deshalb noch halbwegs bedeutende Themen verhandelt werden. Niemand interessierte sich 1970 für die mangelnde Grazilität von Deutschlands nächstem Super-Model oder dafür, wie ein pickliger Schüler von einem dauererregten Schreihals gedisst wird, weil er nicht ganz so gut wie Frank Sinatra singt.
15 bis 20 Millionen Zuschauer, annähernd die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung im damaligen Westdeutschland, sahen das polemische Gefecht und fieberten je nach politischer Einstellung mit Nannen oder mit Löwenthal. Lale Andersen, die einst über den Soldatensender Belgrad mit "Lili Marleen" so schwermütig den Weltkrieg begleitet hatte, schickte ein Telegramm und gratulierte Nannen "im Namen aller weiblichen Zuschauer" zu seinem "größten Erfolg als Mann und Journalist". Und beim Spiegel meldete sich ein Zuschauer mit einer Frage, die ihm offenbar schon länger auf der Seele brannte: Ob "denn der Löwenthal wohl ein Jude" sei?
Ja, Gerhard Löwenthal, der in diesem öffentlich-rechtlichen Streit zu unterliegen schien, war Jude. Während der junge Nannen 1943 beim Münchner Bruckmann-Verlag arbeitete und Briefe ordnungsgemäß mit "Heil Hitler!" versah, oder unter der Rezension einer nationalsozialistischen Kunstausstellung verstand, dass "der Führer aus unserer innersten Mitte gleichsam als Verdichtung unseres ganzen Volkes wunderhaft heraufgestiegen" sei, saßen Löwenthal und sein Vater auf Wunsch eben dieses Führers im Konzentrationslager Sachsenhausen.
In den zeitgenössischen Fernsehkritiken wurde heftig die Nase gerümpft über Stil und Umgangsformen der Diskutanten. Doch war die Sendung nicht etwa ärgerlich, weil sich Löwenthal und Nannen Koseworte wie "Verleumder" und "gemeingefährlich" an den Kopf warfen, sondern weil sie typisch war für die Nachkriegsjahre.
Löwenthal mag ein rechtes Scheusal gewesen sein, mit der Macht des Stern-Rechercheapparats wurde er einfach nur vorgeführt, während Nannen ungestraft den "Herrenmenschen" (wie der Reporter Claus Heinrich Meyer korrekt schrieb) spielen durfte, für den ihn seine Laufbahn vorbereitet hatte. Der Skandal bestand darin, dass Männer wie Weidemann, wie Nannen und wie genug andere nach 1945 ihre Karriere unbehindert fortsetzen konnten.
Was ist schon gerecht?
Diese Männer, die bis zur Niederlage des "Dritten Reiches" vermutlich aus Überzeugung, in jedem Fall mit aller Geisteskraft für den Nationalsozialismus getrommelt hatten, machten nach dem Ende ihres Führers mit anderen Themen, aber mit gleicher Begeisterung weiter. Schlimmer noch: Ohne sie und ihre Kollegen, die unter Hitler und Goebbels gelernt hatten, wie man wirkungsvoll schreibt, hätte es den Journalismus der Nachkriegsjahrzehnte gar nicht gegeben.
Der Luftwaffen-Propagandist Karl Holzamer brachte es zum Intendanten des ZDF (und Vorgesetzten Löwenthals). Werner Höfer, Gründer und Leiter des Internationalen Frühschoppens, war ebenso Nazi-Lohnschreiber gewesen wie Peter von Zahn, durch seine Windrose-Sendung der Inbegriff des weltkundigen Reporters.
Josef Müller-Marein besang die "Hölle über Frankreich" und reportierte kämpferisch "Panzer stoßen zum Meer" (beide Bücher 1940 erschienen), um 1956 Chefredakteur der Zeit zu werden. Herbert Reinecker, der seine Derrick- und Kommissar-Drehbücher dutzendfach ans TV verkaufte, hatte vor 1945 kaum weniger erfolgreich Massenware produziert. Bereits 1936 sah der spätere Chefredakteur der HJ-Zeitschrift Der Pimpf die "Jugend in Waffen" und jauchzte zum Kriegsbeginn 1939: "Panzer nach vorn!"
Wohl gab es die Akten über die frühen Großtaten der bundesrepublikanischen Leistungsträger, doch forderte keine Birthler-Behörde eine "Aufarbeitung" dieser Geschichte, geschweige denn dass jemand, wie es Joachim Gauck kürzlich in der aktuellen Debatte um die Berliner Zeitung für Journalisten mit Stasi-Nähe gefordert hat, "Umwege auf seiner Karrierebahn" akzeptieren musste.
Solche Umwege seien nur gerecht, meint Gauck, aber was ist schon gerecht? Giselher Wirsing, der als Mitarbeiter des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg Jahrzehnte vor Osama bin Laden von einem islamischem Dschihad gegen die Juden, gegen Amerika und den Westen träumte, wurde in Anerkennung seiner Verdienste im "Dritten Reich" mit einer Strafe von 500,- Reichsmark belegt und anschließend Chefredakteur der damals wichtigsten Wochenzeitung Christ und Welt.
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Wie sein ehemaliger Mitarbeiter Klaus Harpprecht berichtet, sorgten ausgerechnet die Nazi-Verfolgten Willy Brandt und Herbert Wehner dafür, dass Wirsing von den SPD-nahen Zeitungen trotz seiner Vergangenheit geschont wurde. Aber schließlich hatte Bundeskanzler Adenauer 1952 höchstpersönlich zur Wiederverwendung der NSDAP-Mitglieder erklärt: "Man kann doch ein Auswärtiges Amt nicht aufbauen, wenn man nicht wenigstens zunächst an den leitenden Stellen Leute hat, die von der Geschichte von früher her etwas verstehen."
Als 1962 der damalige Verteidigungsminister Strauß den Spiegel überfallen ließ, sah Sebastian Haffner daher bei den herrschenden Schichten und Institutionen die nämliche "Charakterlosigkeit" am Werk, die Hitlers Machtergreifung im Februar und März 1933 geduldet und mitgetragen hatte - "wobei es", wie der zurückgekehrte Emigrant in einem Beitrag für die Süddeutsche formulierte, "die Dinge nicht besser macht, dass es sich manchmal noch um dieselben Personen handelt". Haffner wusste, von wem er auch sprach; er war Mitarbeiter von Christ und Welt.
Ein bisschen pornographische Propaganda
Henri Nannen konnte er nicht meinen, weil der sich sofort mit Rudolf Augstein und dem bedrängten Spiegel solidarisiert hatte. Dennoch war Nannen einer von denen, die von der Sache von früher her besonders viel verstanden. Auch er kam aus der hohen Schule der Nazi-Propaganda. In einem Stern-Heft, das 1996 zu seinem Tod erschien, wird sein selbstloser Einsatz für Volk und Vaterland etwas arg knapp wie folgt zusammengefasst: "1939-1945 Kriegsdienst bei der Luftwaffe".
Ja, ein Flieger war er auch, schließlich lockte der "Rote Baron" eine ganze Generation, es ihm gleichzutun. Vor allem aber hatte der begnadete Journalist Henri Nannen in Berlin zur SS-Standarte "Kurt Eggers" gehört und in Oberitalien beim Südstern an antisemitischer und ein bisschen pornographischer Propaganda gegen den anrückenden Feind mitgewirkt. (Die Blätter sind nicht verloren gegangen; ein Teil der Serie findet sich heute in der Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek.)
Als sich deshalb im Juni 1960 beim Stern-Chefredakteur ein Willem Sassen meldete, wird Nannen sich an die schönen gemeinsamen Tage bei der Propaganda-Kompanie erinnert haben. Der holländische SS-Mann Sassen ("Unsere Front ...ist dünn besetzt, aber tief gestaffelt") war bei Kriegsende in Belgien in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, hatte aber fliehen und sich in Argentinien eine neue Existenz als revanchistischer Autor aufbauen können.
Das Erbe der Nazis
In Buenos Aires hatte der sprachgewandte Sassen die Memoiren eines SS-Kameraden aufgezeichnet, den es zunehmend schmerzte, wie gering seine Rolle bei der "Endlösung der Judenfrage" geschätzt wurde. Als der Mossad diesen Adolf Eichmann ergriff und nach Israel brachte, reiste Sassen sofort nach Deutschland und verkaufte das Typoskript ihrer vertrauten Gespräche an den Stern. Der Stern druckte sie zwar nicht, machte sich aber so seine Gedanken.
Mit einem Mal vernahmen die bis dahin mit Unterhaltung verwöhnten Leser politische Töne vom Chefredakteur. "Zumindest in einem Punkt gerät der Staat Israel jetzt in die Gefahr, das Erbe der Nazis anzutreten", schmetterte Nannen und meinte die Tatsache, dass der Kriegsverbrecher Eichmann gegen seinen Willen aus Argentinien entführt worden war.
Auch in weiteren Artikeln bewies Nannen, dass er die Kunst der Propaganda ganz wie früher beherrschte. Er zeigte den "Lieben Sternlesern!" ein Bild von Eichmanns Jüngsten, dem vierjährigen Ricardo, der, einen Hund im Arm, auf die Rückkehr seines Vaters wartet, und daneben, kleiner allerdings, das Bild zweier ermordeter jüdischer Kinder. Von der "deutschen Schuld", die jetzt "noch einmal in aller Breite aufgerollt wird", schrieb der Chefredakteur und wusste auch warum: "Daran könnte Israel gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt interessiert sein, weil eine solche Demonstration die Bundesrepublik moralisch verpflichten müsste, die demnächst auslaufenden Wiedergutmachungsleistungen an Israel fortzusetzen."
Überprüfung fand nicht statt
Der israelische Geschäftsträger in der Bundesrepublik intervenierte zwar deshalb beim Stern-Verleger Gerd Bucerius, doch schien es in der guten alten Adenauer-Republik niemanden zu stören, dass ein ehemaliger Hitler-Besinger dem Staat Israel Nazi-Methoden vorwarf.
Holzamer, Reinecker, Höfer, Wirsing, Nannen sind gestorben. Von der Bloßstellung Höfers abgesehen sind die Kollegen recht verständnisvoll mit dem Karrierebeginn dieser Leitfiguren umgegangen. Auch ohne Stasi-Behörde war der kriegswichtige Propagandaeinsatz bekannt gewesen, eine Überprüfung fand nicht statt. Warum auch, wo es doch so viele waren?
Die Propaganda-Kompanie der deutschen Publizistik ist längst tot, aber der Krieg ist nicht vorbei. Am 23. Oktober kommt der Film "Anonyma - eine Frau aus Berlin" ins Kino. Die große Nina Hoss spielt die Titelrolle, spielt eine Frau, deren Name nicht mehr anonym ist. In ihrem Tagebuch schildert die Autorin, wie sie 1945 nach der Einnahme Berlins zu überleben versucht, berichtet vom täglichen Elend und der "Schändung", den Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Das Buch erschien zuerst 1954 auf Englisch in New York, mit einem Nachwort des Bestseller-Autors C.W.Ceram, der dem Tagebuch einer Unbekannten Aufmerksamkeit zu verschaffen suchte, indem er seine Protagonistin zeitgerecht zum Opfer der "roten Apokalypse" stilisierte.
Überrascht es jemanden, dass dieser Ceram unter seinem richtigen Namen Kurt Wilhelm Marek bis 1945 ebenfalls Propaganda-Schriftsteller gewesen war? "Obwohl von der Niederlage Deutschlands vom ersten Tag an überzeugt, bewahrte mich das nicht vor der Teilnahme an den heftigsten Ereignissen", erläuterte er später in einer Selbstauskunft seinen Werdegang. "Ich war in Narvik, in der Nähe Stalingrads, im Kessel und wurde in Cassino verwundet." So kann man es natürlich auch sagen.
Der altvertraute Feind
Kriegsberichterstatter Marek ist berühmt geworden mit dem wehrkraftertüchtigenden Werk "Wir hielten Narvik" (1941). Noch 1943, dem Jahr der Niederlage von Stalingrad, feierte Marek in dem Bilderbuch "Rote Spiegel - Überall am Feind" die Ritterkreuzträger Hermann Görings. Egal. "Das Kriegsende brachte mir das große Atemholen", schreibt Marek weiter in seiner Eigenreklame, "das plötzliche Geschenk der intellektuellen Freiheit rief furiose Arbeitskraft hervor."
Seine Propagandatitel erzielen auf dem Neonazi- und Militaria-Markt, der durchs Internet besser denn je floriert, noch immer ordentliche Preise. (Wie die Bücher Müller-Mareins, Reineckers, Wirsings auch.) Der furiose Arbeiter Marek arbeitete für die Welt, für den Rundfunk und wurde Cheflektor im wiedergegründeten Rowohlt-Verlag, in dem er 1949 unter seinem umgedrehten Namen den bis heute aufregenden, aber völlig unpolitischen Weltbestseller Götter, Gräber und Gelehrte herausbrachte.
In den von ihm betreuten Aufzeichnungen der "Anonyma" fand Marek wieder den altvertrauten Feind, die Russen, und die Deutschen, die leider Gottes nicht ewig vor Narvik liegen konnten, waren jetzt die Opfer. Demnächst in einem Kino in Ihrer Nähe.