Journalismus:Im Wirbelwind der Weltwirtschaft

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Karl Marx schrieb inkognito Korrespondenzen und Leitartikel für die "New-York Tribune". Der neue Band der Gesamtausgabe versammelt diese Texte der Jahre 1857/58.

Von Jens Grandt

Alle kantenscharfen Aussagen tragen bereits ihre Negation in sich. "Das beständige Zeitungsschmiren ennuyirt mich", schrieb Karl Marx 1853 in einem Brief an den nach Amerika emigrierten Ingenieur Adolf Cluß. Der Frust galt seiner Korrespondententätigkeit für die New-York Tribune (NYT), die seinerzeit bedeutendste liberale Tages-, Wochen- und Halbwochenzeitung, deren Auflage noch die der Londoner Times übertraf.

Über ein Jahrzehnt, von 1851 bis 1862, war er deren Autor, und ein Großteil seiner Berichte wurde als Leitartikel veröffentlicht. Im August 1857 bricht in den USA ein großes Bankhaus zusammen. Die darauf folgende Finanz- und Handelskrise erfasst auch Großbritannien und den Kontinent. Mit einem Mal scheint Marx an journalistischen Exzessen Gefallen zu finden. "Seine ganze frühere Arbeitsfähigkeit und Leichtigkeit ist wiedergekehrt so wie die Frische und Heiterkeit des Geistes", schreibt Jenny Marx an einen Freund. "Karl arbeitet am Tage um fürs tägliche Brot zu sorgen, Nachts um seine Ökonomie zur Vollendung zu bringen."

Der unersättliche Faktenjäger und Quellengräber nahm das Tagesgeschäft sehr ernst

Nachdem in der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) 2002 die Artikel des Jahres 1855 erschienen sind, die sich vor allem mit dem Krimkrieg, dessen historischen Hintergründen und politischen Auswirkungen befassten, legt nun die Editionsgruppe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften alle überlieferten Beiträge des Zeitraums Oktober 1857 bis Ende 1858 vor: davon 81 Zeitungsartikel für die NYT und 39 Lexikonartikel für die "New American Cyclopædia". 68 Texte stammen von Marx, 42 von Engels, sechs haben sie gemeinsam verfasst.

Marx hat sich auf die Europakorrespondenz eingelassen, um sich auf Honorarbasis ein Einkommen zu sichern. Er nahm diese Tätigkeit sehr ernst. Ein unersättlicher Faktenjäger und Quellengräber, hat ihn das Tagesgeschäft aber auch belastet. "Es nimmt mir viel Zeit weg, zersplittert ... Rein wissenschaftliche Arbeiten sind etwas total Andres". Das Themenspektrum ist außerordentlich breit. Neben Parlamentsdebatten (Haushaltspolitik, Regierungswechsel) in London berichtet er über die politische Situation in Frankreich, Russland, Preußen, über Opiumhandel, Exilliteratur. Als die Krise in den USA den Höhepunkt erreichte, kündigte die NYT allen Auslandskorrespondenten, nur an Marx und dem Reiseschriftsteller Bayard Taylor hielt die Chefredaktion fest, erbat sich aber bevorzugt Artikel über den Indischen Aufstand 1857 bis 1859, der das Empire erschütterte, und über die wirtschaftliche Entwicklung. Vor allem letztere sind von einer Substanz, die auch den heutigen Leser anspricht.

In seiner ersten Einschätzung der "Monetary Crisis" des Jahres 1857 befasst sich Marx mit dem Kernstück der britischen Finanzpolitik, dem Bank Act von 1844, in dem die Peel-Regierung eine strikte Begrenzung des Geldumlaufs verfügt hatte, und er sagt voraus, in der herannahenden Krise werde die Regierung gezwungen sein, den Bank Act zu suspendieren. Darüber brauche man sich aber nicht sonderlich aufzuregen, denn die "wahre Affaire" sei der industrial crash, der bevorstehe. Der britische Mainstream antwortete darauf, das Bankgesetz sei nicht zu beanstanden und ein industrial crash "simply absurd", hieß es in der New York Times, einem Ableger der Londoner Times. Eine Woche später erfüllte sich Marx' Prognose, was seinem Ansehen als Wirtschaftsexperte der Redaktion zugute kam.

Marx argumentierte, dass Geldkrisen nur noch verschärft würden, wenn in Zeiten, in denen der Bedarf an Krediten am höchsten ist, die Notenemission beschränkt werde. Dadurch "wird der Anstieg der Zinsen künstlich beschleunigt". Nach Aussetzen des Bank Act sanken die Diskontsätze wieder. Alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen ereignen sich "das erste Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce", schrieb Marx in "Der 18te Brumaire des Louis Napoleon". Wohl wahr, aber ein Satz, der sich mit den Zeitläuften umkehrt; mitunter wiederholt sich die tragische Konstellation gar nicht lustig, sondern in verschärfter Form.

Es ist frappierend, welche Parallelen sich beim Lesen der Artikel über die erste Weltwirtschaftskrise zum jüngsten Krisenparcours der Jahre 2007 bis 2015 auftun. Wie die Europäische Zentralbank den Geldmarkt fluten musste, um in großem Umfang Staatsanleihen zu kaufen, fällt einem ein, oder der Niedergang der griechischen Wirtschaft infolge der Sparkonzepte, woraufhin die Zinsen horrend anstiegen. Daran wird deutlich, dass der "Ochsenkopf von Ideen" (Karl Friedrich Köppen) Grundmechanismen der kapitalistischen Wirtschaftsweise erkannt und präzise wie seinerzeit kein anderer beschrieben hat.

Für Marx ist die Finanzkrise nur das gelbe Blinken einer Ampel, bevor sie auf Rot schaltet, die erste Phase einer allgemeinen Krise, auf die eine ernsthafte Industriekrise folgt. Es ist bezeichnend, dass er von den Produktionsbedingungen ausging. Er hatte sich schon über einige Jahre bemüht, Ursachen und Erscheinungsformen zyklischer Krisen zu ergründen, die spätestens seit 1830 von britischen Ökonomen nicht mehr als zufällig, sondern als eine endogene Eigenart der modernen kapitalistischen Wirtschaftsweise betrachtet wurden. Unmittelbarer Anlass war seinerzeit die Handelskrise von 1847 gewesen, die er in London und Friedrich Engels in Manchester erlebte. Sie hatte auf dem Kontinent Revolutionen ausgelöst.

Deshalb erwartete der aus Preußen und schließlich auch aus Paris vertriebene Dr. phil. ungeduldig die nächste Krise, weil er sich davon eine Wiederbelebung der revolutionären Kräfte versprach. Später, nach den "chronischen" Bankrotten seit 1873, die sich über viele Jahre hinzogen, ist Marx von der direkten Kopplung Krise - Revolution abgerückt und war überzeugt, dass solche Depressionen "einen neuen 'industriellen Zyklus' mit allen seinen verschiedenen Phasen von Prosperität usw. einleiten".

Letztlich hielt er den Crash von 1857 für eine Überproduktionskrise, der eine Finanzkrise vorausging und eine Industrie- und Handelskrise folgte. Marx wollte nun prüfen, ob der Einbruch von 1857 und dessen Folgen (mehr als 1400 Banken in den USA mussten ihre Zahlungen einstellen) seine Thesen bestätigt. Er studierte mit beispielloser Detailversessenheit die Halbjahresberichte des englischen Handelsministeriums, verglich die Bilanzen der Bank von England von 1847 bis 1857, wertete regelmäßig The Economist aus, die führende britische Wirtschaftszeitung, aber auch Morning Star, London Gazette, Times.

In diesen Monaten entstehen drei umfangreiche Exzerptbände, die sogenannten "Krisenhefte": Informationen zur Finanz-, Produktions- und Handelsentwicklung. Er fertigt großformatige Zeitreihen in Form von Wochenchroniken an, die er thematisch aufbereitet, um Unterschiede und gegenseitige Abhängigkeiten zu erkennen. Im Dezember 1857 sieht er sich befugt zu vermerken: "die industrielle Krise steht jetzt an erster Stelle und die Geldschwierigkeiten an letzter".

Aus dem reichhaltigen Material schöpft Marx für seine geld- und krisentheoretischen Arbeiten. Sowohl in den "Ökonomischen Manuskripten" wie in den "Grundrissen der Kritik der Ökonomie" oder bei seinen Überlegungen zur Funktion des Kreditgeldes und zur relativen Abnahme des realen Geldes im ersten Band des "Kapitals". Die Mehrzahl der britischen Ökonomen sah die Krisenursachen in einer Verzerrung des Finanzsektors und übermäßigen Spekulationen. Während der Krise von 1847 war Marx ebenfalls dieser Ansicht. Nun korrigierte er sich. Gerade das wiederholte Auftreten der Krisen in regelmäßigen Abständen schließe die Vorstellung aus, ihre letzten Gründe "in the recklessness of single individuals" zu suchen. Vielmehr seien Spekulation, "fiktive Kredite" usw. ein Resultat der vorherigen Phase. Auch die verbreitete Ansicht, mit Einführung des Freihandels könnten Krisen für immer verhindert werden, sei ein Irrtum. Vor allem kritisierte Marx, dass stets nur die besonderen Merkmale der jeweils aktuellen Krisen betrachtet würden und nicht die allen Krisen gemeinsamen Aspekte.

Ende November erreichte die Krise in Hamburg ihren Höhepunkt, und die Besonderheiten dieses (wichtigsten deutschen) Handelsplatzes konfrontierten Marx mit dem Problem der Staatshilfen. Der Hamburger Senat hatte beschlossen, durch die Herausgabe verzinslicher Wertpapiere die Banken und den Umsatz bestimmter Waren zu stützen. Mit anderen Worten, schreibt Marx, "das Vermögen der gesamten Gesellschaft" vergütet "die Verluste der privaten Kapitalisten", die "solche Art Kommunismus ... ziemlich anziehend" finden. Geholfen hat es wenig; zwanzig große Handelshäuser brechen zusammen.

Muss die Gesellschaft Krisen ertragen wie den natürlichen Wechsel der Jahreszeiten?

Marx führt vor, dass eine Regierung mittels Bankpolitik einzelne Krisenphasen verschärfen oder auch mildern, aber generell eine Wirtschaftskrise nicht verhindern kann. Und wie ein Menetekel an der Wand des betrunkenen Belsazar erscheint die "Alternative", zu der Marx gelangt: "Entweder können die sozialen Verhältnisse von der Gesellschaft kontrolliert werden, oder sie wohnen dem jetzigen System der Produktion inne. Im ersten Fall kann die Gesellschaft Krisen vermeiden; im zweiten Fall müssen sie wie der natürliche Wechsel der Jahreszeiten ertragen werden, solange das System existiert."

Den Bandbearbeitern Claudia Reichel und Hanno Strauß sowie ihren Kollegen im Hintergrund gebührt ein hohes Lob für den philologischen Aufwand und die fachwissenschaftliche Akkuratesse, mit der die Tribune-Artikel erschlossen wurden.

Karl Marx, Friedrich Engels: Artikel Oktober 1857 bis Dezember 1858. Band I/16 der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), bearbeitet von Claudia Reichel und Hanno Strauß. De Gruyter, Berlin 2019. 1180 Seiten, 189,95 Euro.

© SZ vom 16.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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