Wie viele Tiere mit menschlichen, allzumenschlichen Eigenschaften sind einem im Lauf eines Kritikerlebens - ach, was sag ich: eines Menschenlebens! - über den Weg gelaufen? Mäuse. Enten. Katzen. Hunde. Bären. Füchse. Wölfe. Krokodile. Raupen. Ameisen. Maulwürfe. Schmetterlinge. Zicklein im Uhrkasten. Häschen in der Grube. Ohne Zahl.
Viele von ihnen sind in eindeutiger Mission unterwegs: Sie wollen Botschaften über Liebe, Freundschaft, Courage, Abenteuerlust, den Kampf zwischen Gut und Böse oder die Unvollkommenheit der Menschen ins Gemüt der Leser und Leserinnen pflanzen. Von den antiken Geschöpfen Äsops über die Märchenfiguren der Romantik: Die tierischen Helden des 20. Jahrhunderts sind bereits Ururgroßenkel ihrer Sippe: Pu der Bär, der Kröterich und seine Gesellschaft unter den Weiden, Micky Maus, Donald Duck und seine Neffen.
Aber das, was im neuen Comicroman der Leipziger Autorin, Grafikerin und Illustratorin Josephine Mark zu sehen ist, hat es wohl noch nicht gegeben: eine Notfallambulanz für Tiere, mitten im Wald. Obwohl ja die Vielzahl von anthropomorphisierten Säugern, Vögeln, Reptilien, Fischen und Insekten in der Kinderliteratur förmlich nach einer medizinischen Versorgung ruft. Aus den Behandlungskabinen der Waldpraxis machen sich in "Trip mit Tropf" zwei höchst verschiedene Geschöpfe gemeinsam auf den Weg durchs Dickicht: ein Hase und ein Wolf, eigentlich Fressfeinde. Dass sie sich zusammentun, erscheint auf den ersten Blick unmöglich, auf den zweiten jedoch verständlich, ja überlebensnotwendig und, vor allem: tröstlich.
Der alte Wolfskodex tritt in Kraft: "Wenn dir jemand das Leben rettet, musst auch du ihm das Leben retten."
Der schussverletzte Wolf versorgt sich gerade selbst, nachdem Schwester Erdmute, eine extrem sehschwache Maulwürfin, mit der Kanüle an seiner Rollvene gescheitert ist. Er würde zwar, naturgemäß, das mickrige Kaninchen in der Nachbarkabine gerne mit einem Haps verspeisen, aber es riecht so streng nach Arzneimitteln. Zudem prallt bei der folgenden überraschenden Jägerattacke die Kugel, die dem Wolf galt, am Infusionsständer des Nagers ab. Somit tritt der Jahrhunderte alte Wolfskodex in Kraft: "Wenn dir jemand das Leben rettet, musst auch du ihm das Leben retten. Danach könnt ihr wieder natürliche Feinde sein." Da hat sich der Wolf auf etwas eingelassen! Kaninchens Chemotherapie dauert fünf Monate. Im Comic sind das immerhin 180 Seiten, die Wolf und Kaninchen samt Infusionsständer auf Rollen gemeinsam unterwegs sind, vom Spätsommer bis zu den ersten Frühlingstagen in einer wunderschönen Rocky-Mountains-Landschaft. Zu Fuß, im geklauten Truck oder im Bike mit Beiwagen - ein Roadtrip mit ständigen Volten, den wütenden Jäger und seinen Hund Horst immer im Schlepptau.
In diesen Monaten entwickelt sich holprig, ungeschickt, von Fettnäpfchen begleitet, ein inniges, ja zärtliches Verhältnis zwischen den beiden Einzelgängern. Es wird einem dabei zum Heulen froh zumute. Josephine Marks Bildergeschichte ist eine zu Herzen gehende Parabel über die Freundschaft zweier Geschöpfe, deren Naturell unterschiedlicher nicht sein kann: ein schwerkrankes, verängstigtes, einsames Kaninchen, fernab einer schützenden Kolonie. Ein forscher, aufbrausender Wolf, der zu wissen glaubt, wo es langgeht, und der die Dinge beherzt in die Pfote nimmt. Hinter seiner rauen Schale verbirgt sich eine fürsorgliche Seele. Und unter seiner Seelenhaut stecken sicher einige Gründe dafür, sich als "lone wolf" durchs Leben zu schlagen und nicht dem Ruf des Rudels zu folgen.
Dass es einen so unvermittelt in die Handlung zieht, hat auch mit der Bildsprache, mit der Figurenzeichnung und der Kolorierung der Hintergründe zu tun. Man wandert durch die Geschichte als würde man auf einem Waldspaziergang plötzlich von einer Parallelwelt gefangen. Deren Geschöpfe reden pfiffig, ironisch, ernst, mitfühlend, grob, kein Wort zu viel. Sie leben in einer vertrauten, schlichten Landschaft, die schon Tick, Trick und Track vom Fähnlein Fieselschweif durchwandert haben könnten. Sie sehen aus wie Karikaturen, liebevoll mit wenigen Strichen auf den Charakter gebracht. Doch sie sind weit mehr als das: Sie sind Leidtragende, Trostspender, Hoffnungsträger. Sie sind Lebewesen mit Schwächen, Tugenden und Witz und mit einem unerschütterlichen, wenn auch vielleicht tief verborgenen Freiheitsdrang, der sie "Born to be wild" anstimmen lässt, selbst wenn Kaninchen im Fahrtwind das letzte Kopfhaar davonfliegt und Wolf der nächste Streifschuss droht.
Obwohl das Wort "Krebs" nie auftaucht, wird einem schnell klar, dass Josephine Mark mit "Trip mit Tropf" ihre eigene Chemotherapie-Erfahrung verarbeitet. Mit Humor, mit Selbstironie, mit Situationskomik und zeichnerischem Witz - und mit einer Liebe zu nur scheinbar nebensächlichen Details der Krankengeschichte, wie dem üblen Körpergeruch, den die Medikamente verursachen. Die Autorin entrückt Schmerz, Zweifel, Ungewissheit, Hoffnung, Sehnsüchte und eine wunderbare Lust am Leben, in eine ganz andere Welt - in die des Comics. Und bleibt dabei gleichzeitig dem richtigen Leben ganz nahe.