Joseph Ponthus' Roman "Am laufenden Band":Geschichten vom Fließband

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Fließbandarbeit in russischer Fischfabrik. (Foto: Lev Fedoseyev/Imago/ITAR-TASS)

Joseph Ponthus wollte kein Sozialpädagoge mehr sein. Als Fabrikarbeiter suchte er nach körperlichen Wahrheiten und schrieb darüber ein Buch voll ungeahnter Empfindungen.

Von Christoph Bartmann

Joseph Ponthus, 1978 in Reims geboren, arbeitete eine Weile als Sonderpädagoge in Nanterre und verdingte sich dann als Zeitarbeiter in der Bretagne, erst in einer Fischfabrik, dann in einem Schlachthof. "A la ligne" oder "Am laufenden Band" heißt das nahezu interpunktionsfreie Prosagedicht, in dem Ponthus die Erfahrung der Fließbandarbeit in Sprache verwandelt. Entstanden ist dabei nicht etwa eine kritische Sozialreportage, sondern ein so wütendes wie euphorisches Poem. "Nicht die Eintönigkeit der Fabrik / Sondern ihre paradoxe Schönheit" will Ponthus beschreiben. Beim Tofuabtropfen, Schweinezerlegen und Wellhornschneckensortieren, stets in der feuchten Kälte, immer unter Zeitdruck, sind Apollinaire und Victor Hugo, Beckett und Céline, Charles Trenet und Barbara seine Lebensretter.

Man könne vom Fließbanderlebnis nicht "erzählen", sagt Ponthus einmal. Nicht am Band selbst, wo nicht erzählt, sondern bloß gezählt, "heruntergezählt" würde, und auch nicht davor oder danach. Die Ordnung der Prosa scheint am Fließband suspendiert. Ponthus' atemloser Gesang ruft das unerbittliche Zeitregime der Fabrik wach. Niemand hat hier für irgendetwas Zeit übrig, aber wenigstens kann man, sobald man die Handgriffe einigermaßen beherrscht, seinen Träumen nachhängen. Die Fabrik kann eine Art therapeutischer Wirkung entfalten.

So fürchterlich die Fabrikarbeit auch ist, sie erleichtert auf paradoxe Weise den Zugang zur Wahrheit

Joseph Ponthus hat mit beeinträchtigten Jugendlichen gearbeitet, er hat sich einer lacanianischen Psychoanalyse unterzogen, hat selbst unter Depressionen gelitten und Medikamente genommen. Jetzt konstatiert er: "Ich verdanke der Fabrik dass ich nicht mehr unter Panikattacken / leide." Die Fabrik hat die bürgerliche Psyche außer Kraft gesetzt - man hat, sagt Ponthus, mit dem Leiden des Körpers zu viel zu tun, um sich auch noch denen des Geistes hinzugeben. So fürchterlich die Fabrikarbeit auch ist, sie erleichtert auf paradoxe Weise den Zugang zur Wahrheit. "Die Fabrik ist eine Couch", aber weder die Fabrik noch die psychoanalytische Couch, heißt es, haben das letzte Wort über "meine Wahrheit".

Man sieht, Joseph Ponthus ist nicht wie einst Günter Wallraff in die Fabrik gegangen, um dort Belastungsmaterial für ein sozialpolitisches "J'accuse" zu sammeln. Er hat sich vielmehr, aus Verzweiflung oder Übermut, einer existenziellen Belastungsprobe unterworfen. An deren Ende wird ihm deutlicher, was ihn am Leben hält. Was er sei, verdanke er weder Fabrik noch Analyse, "Sondern der Liebe/Meiner Kraft/Dem Leben".

Joseph Ponthus: Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik. Aus dem Französischen von Mira Lina Simon in Zusammenarbeit mit Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2021. 240 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Die Fließbandarbeit, so entsetzlich sie sein mag, kann Ponthus' euphorische Bejahung des "Lebens" nicht nur nicht schmälern, sie treibt sie geradezu auf die Spitze. Man tut sich schwer, an einen deutschen Autor, eine deutsche Autorin zu denken, die mit ähnlicher Vehemenz politische und poetische Affekte zusammenführten. Auf der einen Seite ist Ponthus in der radikalen Linken beheimatet, ausgestattet mit einem ordentlichen Hass auf Emmanuel Macron und dessen (angebliche?) Verachtung der "Ungebildeten", ein Aktivist und Demonstrant, den man sich auch als linksextreme Gelbweste vorstellen könnte. Auf der anderen Seite offenbart sich Ponthus als Romantiker durch und durch, erfasst von Dichterworten aus dem französischen Pantheon, beseelt von der Liebe zu seiner Frau, der er die Fabrikarbeit gleichsam als Liebesopfer zu Füßen legt. Der unerträgliche Frost der Kühlhallen kontrastiert mit einer großen geistig-körperlichen Hitzigkeit. Im "Zauber der freiwilligen Knechtschaft" sind vielerlei widersprüchliche Gefühle zugelassen. Ein Gedanke, der bei Ponthus freilich nie auftaucht, ist der an die Segnungen einer linken Sozialpolitik. Könnte man die Not der prekären Zeitarbeiter nicht irgendwie politisch adressieren und für konkrete Verbesserungen sorgen? Aber mit diesem Gedanken scheint Ponthus schon länger fertig gewesen zu sein. So geht seine marxistisch informierte Kritik an den weithin herrschenden Arbeitsbedingungen auf interessante Weise ins Leere; was ihn und seinesgleichen retten kann, sind offenbar doch nur die Poesie und die Liebe.

Im Februar 2021 ist Joseph Ponthus mit 42 Jahren in Lorient an Krebs gestorben. Sein Buch, das 2019 erschienen war, hatte in Frankreich für Aufsehen gesorgt. Sein früher Tod verstärkt noch die Erschütterung, der man bei der Lektüre nicht entgeht. Der unbedingte Lebenswille, der Überschuss an Kraft, Liebe und Energie, den er noch und gerade der miserabelsten Arbeit abgewinnen kann, sie scheinen wie vergeudet an diesem Sterben. "Ich spüre deutlich mein In-der-Welt-sein / Eine fast spinozaische Einheit mit meiner Umwelt / Mit der All-Einheit der Fabrik / Ich bin die Fabrik sie ist sie und ich bin ich." Ponthus' Fließband-Buch, ein Buch voller ungeahnter Wahrnehmungen und Empfindungen, wird bleiben.

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