Jonathan Meese:Hitlergruß mit Mutti

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"Ihr seid alle die Lolita eurer selbst", behauptet Jonathan Meese am Theater Dortmund und tritt mal wieder an für die absolute Freiheit der Kunst. Nicht ohne seine Mutter.

Von Alexander Menden

Am Ende kommt sie wirklich: die Mutter. Nachdem Jonathan Meese gefühlte hundert Mal zu Rammsteins "Sonne" Mutters Auftritt angekündigt hat, geht Brigitte Meese durch den Zuschauerraum des Dortmunder Theaters zur Rampe und wird fürs Schlusstableau mit dem habituell den Hitlergruß vollführenden Künstlersohn auf die Bühne geholt. Da gehen dann tatsächlich noch ein paar Zuschauer, auf der Zielgeraden sozusagen. Sie denken, dass hier eine Neunzigjährige für den Showeffekt instrumentalisiert wird. Dabei ist Mutter Meese der Fixstern im Kunstuniversum des 50-jährigen Sprösslings Jonathan. "Sie ist der hellste Stern von allen", singt er. "Sie wird sich in Adolf Hitler verknallen."

Diese rührende Feier der Sohnesliebe schließt einen knapp dreistündigen Abend mit dem Titel "Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) - Ihr seid alle die Lolita eurer selbst!" Nominell ist Vladimir Nabokovs "Lolita" der Ausgangspunkt des Ganzen. Aber obwohl Meese zunächst einen Film zeigt, in dem Mutter Brigitte eine ausführliche Zusammenfassung des Romans verliest (und danach leicht genervt in die Kamera schaut), und obwohl Lilith Stangenberg bisweilen lolitamäßig an einem Riesenlolli lutscht, geht es letztlich um das, worum es immer geht bei Jonathan Meese: die Mutter, die "Diktatur der Kunst", deutsche Mythen, den Führer, Richard Wagner.

Meeses Bühne ist ein geschlossener Kunstraum ohne Entsprechung im wahren Leben

"Ich werde im Teutoburger Wald eine Weltreise machen und dort die Alraune des Führers züchten", kündigen Meese und ein in ein penisnasiges Maulwurfskostüm gezwängter Bernhard Schütz abwechselnd an. Den Bühnenraum schmücken eine Mumin-Plastikfigur, verspiegelte Würfel, ein längs halbierter Wohnwagen, Telefonzellen und diverse von Meese gefertigte Riesenbanner. Links und rechts davon zeigen Monitore stumm zwei Filme: John Boormans postapokalyptischen LSD-Trip "Zardoz" und Robin Hardys Folkhorror "The Wicker Man". Besonders "Zardoz" mit einem viril-letalen Sean Connery bietet einen schönen, Meese-gemäßen Gegenentwurf zur Kulturgesellschaft. Wie überhaupt alle Dinge und Ereignisse auf der Bühne Signifikate ohne Entsprechung im wahren Leben sind, sie existieren allein im geschlossenen Kunstraum des Meeseversums - von den Kostümen (Kombination aus Fantomas-Maske, Biedermeierhaube und SS-Jacke) über die auf eine Hellebarde gewickelte Zuckerwatte bis zum fröhlichen "Deutsch, deutsch, deutsch" auf die Melodie des Eighties-Hits "Boys".

"Demokraten sind einfach nur Formfleischmenschen!" Sind solche Verbalattacken aufs System womöglich besorgniserregend in Zeiten, in denen die Mechanismen des Parlamentarismus, wie jüngst in Thüringen, mittels beinahe performancekunstreifer Aktionen gegen die Demokratie selbst zur Waffe gemacht werden?

Überhaupt nicht. Meese bietet, im Gegenteil, einen separaten Schutzraum der Kunst. Von der Rufschädigung, die der Performancetitel behauptet, kann deshalb auch keine Rede sein. Er bleibt seinem Ruf und seiner Berufung absolut treu, indem er monoman die Kunst, die ja tatsächlich nichts anderes ist als eine wohlmeinende Diktatur, gegen demokratische Verwässerung verteidigt.

In der Empörungsgesellschaft müsste Meese ein Dauertrigger sein. Aber abgesehen davon, dass seine Arbeit natürlich weitgehend jenseits jener breiten Öffentlichkeit stattfindet, die sich aufregen könnte, bleibt er ein verlässlicher Vertreter des "Als ob". Im Laufe des Abends fordert der Kunstdiktator immer wieder: "Keine Realität!" Es klingt wie eine Ermahnung an die Schauspieler, nie naturalistisch zu werden, aber auch ans Publikum: Alles, was da auf der Bühne passiert, ist strikt artifiziell, nichts weist über sich selbst hinaus. Da berührt sich Meeses Ansatz mit dem des politisch so aktiven Kollegen Ai Weiwei, für den der Hitlergruß ja auch "erst mal nur eine Geste" ist.

Wenn also Maximilian Brauer dem Kollegen Schütz Schokolade vom nackten Hintern leckt, ist das nichts weiter als quasi-fäkaler Grand Guignol, und wenn Uwe Schmieder im Gartenzwergkostüm grüßt, dann ist es Karneval. In einer Zeit, in der die Kunst aus Angst immer häufiger ihrem größten Feind, dem Kompromiss, anheimfällt, verteidigt all das einen kompromisslosen Freiheitsanspruch - ohne Botschaft, mit Mutters Hilfe.

© SZ vom 18.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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