Süddeutsche Zeitung

Jonathan Littell in Berlin:Im Versteck des Wissens

Lesezeit: 3 min

"Die Leiche ist eine grammatische Form, wenn man schreibt": Daniel Cohn-Bendit und der Autor des Romans "Die Wohlgesinnten" Jonathan Littell sprachen über Literatur und Massenmord.

Lothar Müller

Ein Theater ist kein ungefährlicher Ort für einen Schriftsteller, der sein Buch präsentiert. Denn das Wasserglas, der Tisch und die Caféhausstühle mögen sich noch so sehr dagegen wehren, etwas Requisitenhaftes, Inszeniertes werden sie nicht los.

Manchmal verfliegt dieser Hauch des Theatralischen schnell. Am Mittwochabend, als im Berliner Ensemble Daniel Cohn-Bendit und Jonathan Littell, Autor des Romans "Die Wohlgesinnten", aus dem Dunkel des schwarzen Bühnenhintergrundes hervortraten und am Caféhaustisch Platz nahmen, verdichtete er sich schon nach wenigen Minuten.

Daniel Cohn-Bendit ist, als Kind jüdischer Eltern, eines Deutschen und einer Französin, Anfang April 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges geboren, Jonathan Littell, der ebenfalls einer jüdischen Familie entstammt, im Oktober 1967 in New York. Aber kaum sind - auf französisch - die ersten Worte gewechselt, da sitzt dem Schriftsteller nicht mehr ein gut zwei Jahrzehnte älterer, erfahrener Politiker gegenüber, sondern ein Lernender, der den Autor befragt wie der Schüler den Meister, der entspannt dasitzt, ein Bein über das andere geschlagen, und manchmal an seiner Zigarette zieht oder die Asche abstreift.

Theorie der Massenvernichtung

Littell weiß mehr über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und die Judenvernichtung, er weiß mehr über die antike Tragödie und er hat, anders als Cohn-Bendit, als Mitarbeiter humanitärer Organisationen in Bosnien, Tschetschenien und Ruanda direkte Einblicke in die aktuellen Welten des Kriegs und der Massaker gewonnen. Fast jede Frage Cohn-Bendits sieht, nachdem sie Jonathan Littell nachsichtig lächelnd beantwortet hat, naiv aus. Etwa die nach der Verknüpfung des Helden im Roman, des deutsch-französischen SS-Offiziers Max Aue, mit der Figur des antiken Muttermörders Orest: werde dadurch der Teilnehmer an modernen Massenmorden nicht in die Sphäre des antiken Schicksals gehoben, von der Verantwortung fürs eine Taten entlastet?

Littell antwortet, das sei eine eher schlichte Lektüre der antiken Tragödie, und fügt ein Kurzreferat über die Tragödientheorie Jean-Pierre Vernants und die "Orestie" des Aischylos ein, deren Fluchtpunkt gerade nicht das Schicksal, sondern die Rechtsetzung sei. Und wenn Cohn-Bendit zu schildern beginnt, wie er während der Lektüre des Romans begonnen habe zu verstehen, "dass es eine Fülle von Arten gibt, Nazi zu sein", entwickelt Littell eine epochale Analogie, "die ich in meinen Forschungen erst spät verstanden habe": dass der Nazismus ähnlich funktioniert habe wie das Christentum im Mittelalter.

Littell ist in Frankreich zur Schule gegangen, studiert hat er in Yale. Vielleicht sind es die Dämonen des Verfremdungseffektes, die ihn auf der Bühne des "Berliner Ensembles", die er als Romanautor betreten hat, mehr und mehr wie den jungen Historiker einer Elite-Universität wirken lassen, der aus dem Stegreif über so ziemlich jede Frage aus der Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust dozieren kann.

Seine Lieblingsbegriffe sind "Struktur" und "Konstruktion". Richard Wagner mag er nicht, Johann, Sebastian Bach hat er die Kapitelüberschriften seines Romans entliehen ("Toccata", "Sarabande", "Allemande" etc.). Und kaum ist eine knappe Anmerkung zu Heidegger gemacht, entwirft er en passant eine Theorie der Massenvernichtung im 20. Jahrhundert: sie sei das aus den jeweiligen inneren Spannungen hervorgegangene Produkt der drei Verlierergesellschaften des Ersten Weltkrieges: Deutschland, Österreich und Russland.

Technik und Stil

Während der Historiker Littell doziert, rückt sein Roman mehr und mehr ins Bühnendunkel. Keine der Passagen, die der Schauspieler Christian Berkel daraus zu Beginn und zum Abschluss liest, führt ins Zentrum derjenigen Regionen, die den Roman zur monströsen Lektüre machen: im "Berliner Ensemble" platzen keine Köpfe, fliegen keine Augen aus zertrümmerten Schädeln, watet Max Aue nicht durch Meere von Fäkalien, jagt er nicht wie eine Pulp-Fiction-Figur einem alten pommerschen Aristokraten, der an seiner Orgel Bachs "Kunst der Fuge" spielt, beiläufig eine Kugel in den Kopf.

Einmal macht Daniel Cohn-Bendit einen schüchternen Versuch, den Romanautor Jonathan Littell aus dem Historiker hervorzulocken. Für den Leser, sagt er, sei der Roman "grauenhaft", sei er das auch beim Schreiben für den Autor gewesen? Littell antwortet: "Die Leiche ist eine grammatische Form, wenn man schreibt." Das ist provozierend kühl formuliert. Aber es bringt die Sphäre ins Spiel, auf die hin der Romancier Littell zu befragen wäre: Technik und Stil.

Cohn-Bendit begnügt sich mit Littells Formel: "wenn man allein die Fakten zeigt, ist das schon ein Delirium". Doch der Romanautor Littell rivalisiert mit den Historikern nicht um die Fakten, sondern um die Form ihrer Darstellung. Im resolut sexualisierten Triebwesen Max Aue will er die den Historiographen unzugängliche Innenwelt der Täter mit den Mitteln der Literatur erschlossen haben.

Aber Max Aue ist keine historische Figur und auch nicht die "Erinnerungsfabrik", die er zu sein behauptet. Er ist ein archiv- und theoriegestütztes Produkt der Gegenwart, - und zugleich und vor allem Produkt einer ästhetischen Souveränität, deren Zappen zwischen Flaubert und Pulp Fiction es an Monströsität mit ihren Gegenständen aufnehmen kann. Wassili Grossmanns "Leben und Schicksal" war noch ein Epos der Erfahrung und Erinnerung an den Krieg im Osten und die Lager. In Littells Roman, in dem die Greuelpassagen etwas von Prunkzitaten haben, sind Nationalsozialismus und Holocaust nicht mehr Gegenstände der Erinnerung. Sie sind Gegenstände des Wissens geworden.

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Quelle:
SZ vom 1./2.3.2008/kur
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