Jonathan Littell: "Die Wohlgesinnten":Ein schlauer Pornograph

SS, Homosexualität, Inzest, Durchfall und Erbrechen - Pornographie will die ultimative Überschreitung: Jonathan Littells jetzt auf Deutsch erscheinender Roman "Die Wohlgesinnten" ernennt den Leser zum Voyeur.

Thomas Steinfeld

Der Erzähler soll ein zartes Kind gewesen sein, wenigstens behauptet er das selber. Erst ein Jahr sei er alt gewesen, und seine Zwillingsschwester mit ihm, als sein Vater in den Krieg zog. Dünn, bleich und nervös sei er zurückgeblieben im Elsass, wo die Familie lebte, die Wälder seien groß gewesen, und er habe in Bachläufen gewatet. Als das Elsass dann verloren ging, habe sich die Familie in Kiel niedergelassen. Doch dann sei der Vater verschwunden, in die Türkei, den Mittleren Orient oder wohin auch immer.

Jonathan Littell: "Die Wohlgesinnten": Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" überschreitet geschlechtliche Tabus.

Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" überschreitet geschlechtliche Tabus.

(Foto: Foto: AFP)

So beginnt die Geschichte Max Aues, des SS-Offiziers, der Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" als Lebenslauf seiner selbst erzählt. Doch der Roman fängt nicht so an: Nach einer theoretischen Vorrede, in der es vor allem darum geht, wie gering der Unterschied zwischen Schuld und Unschuld ist, beginnt das Buch mit einer Eroberung: Obersturmführer Dr. Max Aue, 1913 geboren, Jurist und angeblich überzeugter Nationalsozialist, betritt, im Zuge des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion im Juni 1941, mit den ersten deutschen Truppen den Boden der Ukraine: "Alles in Ordnung, Strehlke kümmert sich um die Unterkunft. Kommen Sie mit."

Viel ist über Jonathan Littells Roman geschrieben und erzählt worden, nachdem er im Oktober 2006 in Frankreich erschienen war. Groß ist der Erfolg, nicht nur in Frankreich, sondern auch schon in Italien und Spanien. Von diesem Wochenende an werden sich auch die deutschsprachigen Leser mit dem Werk beschäftigen können (Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Berlin Verlag, Berlin 2008. 1388 S., 36 Euro).

Alle Pornographie ist Bild

Sie werden einem blassen, vagen, fast durchsichtigen Helden begegnen. Denn es geht in diesem Buch nur zum Schein um Max Aue, diesen sonderbar willenlosen Karrieristen, dessen Aufstieg als politischer Soldat bis hin in die obersten Ränge der SS von Homosexualität und Inzest, von Durchfall und Erbrechen gekennzeichnet ist. Es geht um das, was er wahrnimmt, was er beobachtet: "Er traf den Kopf mit der Kante der Schaufel; der Schädel des Mannes gab nach, Blut und Hirnmasse spritzten auf Tureks Stiefel; deutlich sah ich, wie ein Auge, durch den Hieb hinausgeschleudert, ein paar Schritte weit flog."

"Die Wohlgesinnten" sind ein pornographisches Werk. Und zum Pornographischen gehört, dass es hier weitaus mehr zu sehen als zu verstehen gibt. Jonathan Littell will die Aufhebung auch der letzten reflexiven wie ästhetischen Distanz. Er will etwas Mächtiges zeigen, so groß, dass es den Leser zum direkten, unverstellten, fassungslosen Hingucken zwingt. Über die Pornographie ist aber ein Irrtum im Umlauf: dass sie auf Befriedigung zielt und erlischt, wenn diese erreicht ist. Das ist falsch.

Denn alle Pornographie ist Bild, das über sich hinausweist, sie ist daher unzufrieden, stets will sie mehr, will unmittelbarer sein, aus dem Bild heraustreten, dem Leser unter die Haut gehen, als wäre sie ein Stück von ihm selber. Und weil die pornographischen Bilder, je mehr man sie anstarrt, um so ungreifbarer werden, geraten sie immer bunter, wilder und gröber.

Jonathan Littells Pornographie gilt dem Krieg: Denn innerhalb der Künste ist der Krieg die Vision, von der die heftigste Erschütterung ausgeht, heftiger noch als von der Sexualität. Das Äußerste an Erschütterung entsteht, wenn sich der Krieg mit der Sexualität mischt, wenn Kämpfen, Morden und Vergewaltigen in eins gehen - und auch noch das Kind hinzukommt, wie am Ende des Romans, als der Erzähler und sein bester, einziger Freund (Max Aue wird zum Schluss auch ihn ermorden) in den letzten Tagen des Deutschen Reiches irgendwo in Pommern einer Horde von marodierenden Halbwüchsigen in die Hände fallen, die miteinander ebenso brutal umgehen wie mit Erwachsenen: "Anschließend packten zwei oder drei Jungen ein Mädchen bei den Haaren, warfen es zu Boden und vergewaltigten es vor den Augen aller, bissen ihm dabei wie Kater in den Nacken, andere Jungen beobachteten sie und holten sich in aller Öffentlichkeit einen runter; wieder andere schlugen denjenigen, der gerade auf dem Mädchen war, und stießen ihn zur Seite, um seinen Platz einzunehmen, die Kleine versuchte zu fliehen, wurde wieder eingefangen und mit einem Tritt in den Bauch niedergeworfen, das Ganze unter durchdringendem Geschrei und Geheul; im Übrigen schienen mehrere dieser kaum geschlechtsreif gewordenen Mädchen schwanger zu sein."

Allgegenwart des Faktischen

Der Roman "Die Wohlgesinnten" handelt vom Zweiten Weltkrieg und vom Holocaust. Er spielt in der Ukraine und in Russland, im Kaukasus und auf der Krim, in Auschwitz und Antibes, in Pommern und immer wieder in Berlin. Durch dieses Inferno wandelt ein Held, dem manchmal übel wird, der aber immer dabei ist. Er selbst ist fiktiv, aber er ist umgeben von historischen Figuren, die ihre realen Namen tragen und ihre realen Funktionen ausüben. Bis kurz vor dem Schluss tut Max Aue, was ihm aufgetragen wird, stur, pedantisch, seinen Herren auf merkwürdig banale Weise treu. Zwei Motive treffen dabei immer wieder aufeinander: eine unendliche Bürokratie und eine unendliche Grausamkeit. Littells Roman setzte eine umfangreiche Recherche und die historische Forschung voraus, allen voran das Werk von Raul Hilberg.

Der Stoff war also da, in Gestalt der Wehrmachtsausstellungen, als Fotografie auf Papier gezogen und millionenfach verbreitet. Nur eines fügt Jonathan Littell hinzu: die Bilder der Landschaften, ihre Gerüche und Stimmungen, denn er war vor Ort, und so überlagert ein Firnis von sinnlicher Gegenwart die Schilderung historischer Ereignisse. Dass diese Geschichte von Krieg und Holocaust vorhanden war, und nicht nur dies: dass sie weithin bekannt ist, ist für "Die Wohlgesinnten" von entscheidender Bedeutung. Denn das Vorhandensein des Materials erspart Jonathan Littell die Mühe, den Alltag eines Massenmörders zu erfinden.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum der Leser in Littells Roman zum Voyeur mutiert.

Ein schlauer Pornograph

Die sprachlichen Schwächen dieses Buches sind nicht nur Mängel der literarischen Technik - wer würde von einem SS-Offizier erwarten, dass er wie ein Schriftsteller schreibt? "Ich legte den Sicherheitshebel um und schoß dem Mann in die Stirn, er zuckte auf und verstummte augenblicklich." - "Gewiß, Herr Minister, uns macht vor allem die Fluktuation Probleme." Die konventionelle Sprache, die leblosen Dialoge in diesem Buch sind auch eine Konsequenz aus der Allgegenwart des Faktischen, auf dessen Monströsität sich der Autor verlassen kann.

Allzu häufig blickt Max Aue durch eine offene Tür, durch ein Fenster, durch einen Rahmen - aber anstatt die Szenen zu entwerfen, derer der Held nun ansichtig wird, setzt der Autor Littell sie voraus. Sein Erzähler ist ein Couponschneider des Grauens. Als gehörten die Bilder, die er aufruft, zu einem "comic strip" und als wären sie von allein sichtbar, stellt er lediglich Unterschriften darunter. Und so ereilt ihn schnell das Schicksal des Pornographen, sich immer weiter in seinen Stoff hineinwühlen, ihn aufhäufen und türmen zu müssen, bis im Unmaß, in der absoluten Überwältigung irgendwann einmal Ruhe einkehrt. Die kolossale Umfang des Buches ist eine Folge des Bedürfnisses nicht nach Vollständigkeit, sondern nach Überbietung.

Erregung des Lesers als Voyeur

Einige wesentliche Unterscheidungen, auf welche die Geschichtswissenschaft der vergangenen Jahrzehnte großen Wert legte, bleiben dabei auf der Strecke. Die erste ist die zwischen militärischem Geschehen und Völkermord, zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Sie geht unter in einem einzigen gigantischen Schlachten, in Dreck und Blut, in einem allgemeinen Töten und Hinrichten, in dem sich die Bürokratie der Judenvernichtung zwar als strukturierendes Motiv geltend macht, ohne aber dem Kriegsgeschehen, mit dem sie verbunden war, als eigenständige Größe an die Seite zu treten.

Die zweite Unterscheidung ist die Markierung der spezifisch deutschen Verantwortung für den Holocaust. Sie verschwimmt in den Grausamkeiten, die etwa von den Sowjets gegenüber den Juden im Osten begangen werden - ganz abgesehen davon, dass es bei Jonathan Littell immer wieder Österreicher sind, die den Völkermord besonders entschlossen vorantreiben.

Aber es ist sinnlos, Jonathan Littell nach seinen Gründen für solch gravierende Eingriffe in die Geschichtsschreibung zu befragen - ebenso, wie es sinnlos sein wäre, von der Figur Max Aues eine Erkenntnis zur Psychologie des politischen Massenmords zu erwarten. Die Aufgabe des Erzählers in diesem Buch besteht allein darin, die Wanderung durch die Hölle - und damit: die Erregung des Lesers als Voyeur - zu organisieren.

Insofern ist er eine notwendig satanische und zugleich unplausible Gestalt. Denn hinter der Maske des teilnahmslosen Beobachters und fiktiven historischen Akteurs lugt immer wieder der literarische Knecht des Autors Littell hervor. Dieser Knecht lebt als literarische Figur nicht von der Einfühlung in die Perspektive der historisch-realen Täter, sondern von seiner entschlossenen, immer wieder aufflammenden Sexualisierung, von seiner Fixierung auf das Anale, die Fäkalien, auf den Inzest, vom Überschreiten geschlechtlicher Tabus.

Motiv der Überschreitung

Jonathan Littell ist ein schlauer Pornograph. In Interviews, vor allem in einem großen Gespräch, das er im November 2007 mit dem französischen Verleger, Publizisten und Schriftsteller Pierre Nora führte, insistierte er immer wieder darauf, mit diesem Buch sei es ihm vor allem darum gegangen, den Rang der Literatur als weltliche Großmacht wiederherzustellen und an die größten Schriftsteller der französischen Literatur anzuknüpfen, an Gustave Flaubert vor allem. Doch so sehr Flauberts Versuch, der Literatur derart kunstvoll den Ton der Wirklichkeit zu verleihen, dass die ästhetische Erfahrung zu etwas existentiell Bestürzendem wird, ein Vorbild Littells sein mag - so sehr unterscheiden sich die Mittel. An die allgemeine Mobilmachung (buchstäblich) als Mittel der Literatur hatte Gustave Flaubert nie gedacht. Um so mehr tut dies Jonathan Littell in seinem totalen Realismus.

Darin erweist er sich als Erbe einer ganz anderen französischen Tradition: der negativen Aufklärung des Marquis de Sade, der Logik der "Überschreitung", von der Georges Bataille sprach, der Theorie des absoluten "Desasters" von Maurice Blanchot. Und mehr noch als der Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust verdanken die "Wohlgesinnten" der Lektüre Michel Foucaults.

Jonathan Littells Roman nimmt sich aus, als habe einer das letzte, von Michel Foucault nicht geschriebenes Kapitel in dessen Werk "Überwachen und Strafen", das der Ekstase, der Vernichtung und dem Verstummen gewidmet sein müsste, in literarischer Form niedergelegt - und Literatur muss das Medium dieser Überbietung sein, weil sie besser als alle anderen Künste mit dem Autotelischen der Gewalt, mit ihrem Bezug auf den Täter selbst und dessen Willkür, umgehen kann.

Dem Motiv der Überschreitung schließlich verdankt sich auch das Spiel, das Jonathan Littell mit der griechischen Mythologie inszeniert: Es gibt keine literarische Notwendigkeit, Max Aue die in "Wohlmeinende" verwandelten Erinnyen hinterherzuschicken, es gibt keine Notwendigkeit, ihn in einen modernen Orest zu verwandeln, ihn die Mutter töten, die Schwester beschlafen und den Freund (der ihm mehrfach das Leben rettete) umbringen zu lassen.

Jedenfalls ergibt es sich durchaus nicht aus dem historischen Material. Dass Max Aue all dies tun muss, ist allein auf die Logik der Überschreitung zurückzuführen. Sie ist der Kern des Buches, nicht die recherchierte Erzählung von Verwaltunsgakten, Bürokratie der Vernichtung und Restaurantbesuchen. Als Wiedergänger der vom Schicksal geschlagenen antiken Helden verliert Max Aue jenen Schrecken, den die Historiker uns in den letzten Jahrzehnten gezeigt haben: den Schrecken der nicht-perversen, gewöhnlichen Täter. Weil er diese Einsicht kassiert, hat Jonathan Litell ein monströses Buch geschrieben.

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