Brexit-Literatur:Die Übermacht der Kochschinken

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Land der Wütenden und der Rassisten, der Abgehobenen und der Weltfremden, der Ressentiments und der Frustrationen: Brexit-Anhänger feiern in Glasgow den Austritt aus der EU. (Foto: Andrew Milligan/picture alliance/dpa)

Jonathan Coe hat mit "Middle England" die bisher beste Brexit-Bestandsaufnahme geschaffen. Und beschreibt, wie ein Land erst den Kopf und dann komplett die Orientierung verlor.

Von Alexander Menden, London

Am Tag der Trauerfeier für seine Mutter sitzt Benjamin Trotter im Erker einer umgebauten Mühle, die er allein bewohnt, blickt auf den mondbeschienenen Fluss und hört "Adieu to old England" - "einen der schaurigsten und melancholischsten Folksongs, die in England je geschrieben wurden". Darin beklagt sich die Sängerin kurz gesagt darüber, dass es ihr, der es früher so gut ging, heute so furchtbar schlecht geht. Ben denkt an das "Gefühl von Benachteiligung", das in England allenthalben zu spüren ist, "diesen Hass auf das finanzielle und politische Establishment" und die "stille Empörung der Mittelschicht, die sich an Behaglichkeit und Wohlstand gewöhnt hatte und jetzt merkte, dass ihr das alles entglitt".

Diese zutiefst ungesunde, sehr englische Nostalgie, die sowohl die beschriebene Szene als auch das Lied selbst bestimmt, dieses Grundgefühl unscharfen Unbehagens an der Gesamtsituation, ist Ausgangslage und Humus für die Spaltung, die "Middle England" thematisiert, der jüngste Roman des Briten Jonathan Coe. Er spielt in einem England der Wütenden und der Rassisten, der Abgehobenen und der Weltfremden, der Ressentiments und der Frustrationen. Sprich: im Land des Brexit.

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Von den SZ-Literaturkritikern

"Middle England" - der titelgebende Begriff wird gern für das "wahre", ländliche Mittelschicht-England der Cricket Greens und normannischen Kirchlein jenseits der großen Städte verwendet - ist gewissermaßen ein Nachzügler. Es handelt sich um den späten dritten Teil einer nie als solcher geplanten Trilogie. Die beiden vorangehenden Bände, "Erste Riten" (2002) und "Klassentreffen" (2006) hatten weitgehend die gleichen Zentralfiguren. Ben Trotter, der verträumte angehende Autor, unglücklich verliebt (später unglücklich verheiratet und schließlich geschieden), sein bester Freund, der Prog-Rock-Fan Philip Chase, mittlerweile Verleger für Bücher über Heimatkunde, und Doug Anderton, der die Privatschule, welche die drei besuchen, mit sozialistischen Ideen aufmischen wollte, und jetzt ein prototypisch linksliberaler Journalist geworden ist.

"The Rotter's Club", so der Originaltitel von "Erste Riten", hält angeblich den Rekord für den mit 13 955 Wörtern längsten Satz in der gesamten englischsprachigen Literatur. In einer Reminiszenz an diesen Rekord spekuliert Ben in einem der Kapitel von "Middle England", das aus einem einzigen Stream-of-Consciousness-Satz besteht: "... darüber, was Schriftsteller in Zeiten wie diesen tun oder lassen sollten, ob sie versuchen sollten, engagés zu sein, so lautet glaube ich der französische Begriff, oder ob es besser sei, in die 'innere Emigration' zu gehen, sprich, sich in sich selbst zurückzuziehen und vor der Realität zu flüchten".

Genau das ist erkennbar auch die Frage, die Coe sich selbst gestellt hat. Er beantwortet sie mit dem, was im englischen Sprachraum eine state of the nation novel genannt wird, eine fiktional überbaute Dokumentation der Jahre unmittelbar vor und nach dem britischen EU-Referendum. So, wie "Erste Riten" den Ehrgeiz hatte, eine Art endgültiger Roman über pubertäre Mittelschichtjungs im England der Siebzigerjahre zu sein, hinterfangen von einer narrativen Geschichtsstaffage aus IRA-Terror, Streikwellen und Punkmode, so wie "Klassentreffen" die Blair-Jahre spiegelte, so hat "Middle England" den Ehrgeiz, als Gründungswerk des jungen Genres namens "Brexit-Roman" zu dienen.

Bens Vater Colin ist ein klassischer "Gammon" - ein Kochschinken

Benjamin, der "beste unveröffentlichte Autor des Landes", ist mittlerweile Anfang 50. In "Klassentreffen" hat er sich scheiden lassen, jetzt schreibt er in seiner Mühle weiter an einem unendlich langen Buch. Er ist gleichsam die Nabe, um die sich alles dreht. Sein Freund Doug arbeitet als Zeitungskolumnist, entfremdet von seiner reichen Frau, deren Wohnung in Chelsea er aber gerne weiter nutzt - er ist Repräsentant der London-zentrischen chattering class, ein Lieblingsfeindbild der brexitfreundlichen Rechts- und Linkspopulisten. Diese mittelalten, liberalen Männer finden sich plötzlich umzingelt von immer mehr kleingeistigen, rückwärtsgewandten Menschen, die sie ins Brexit-Verderben zerren. Wie dies geschieht, das fasst Coe in ein narratives Geflecht, welches in seiner Komplexität an die viktorianischen Monolithe Anthony Trollopes erinnert, und das im Einzelnen nachzuvollziehen nur unwesentlich weniger Raum einnehmen würde als das Buch selbst.

Jonathan Coe: Middle England. Roman. Aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs. Folio Verlag, Wien/Bozen 2020. 477 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Letztlich tritt das Zwischenmenschliche aber auch hinter dem Historischen zurück. In den beiden Vorgängerromanen dienten die minutiös recherchierten Bilderbögen des geschichtlichen Hintergrunds der Siebzigerjahre und der Jahrtausendwende als Staffage, vor der sich die privaten Nöte und Leidenschaften der Protagonisten abspielten. "Middle England" setzt den Schwerpunkt hingegen bei den konkreten Ereignissen zwischen 2010 und 2018, die Coe akribisch und chronologisch abarbeitet: Da sind der Finanzcrash, die Bildung der konservativ-liberalen Koalitionsregierung von 2010, die Londoner Unruhen im Sommer 2011 und die Olympischen Spiele im Jahr danach, die Wahl Jeremy Corbyns zum Labour-Chef, der rechtsterroristische Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox, der Referendums-Schock und die darauffolgenden, immer erbitterter werdenden inner- und außerparlamentarischen Grabenkämpfe.

Die Figuren werden dabei zu Platzhaltern für politische Positionen im Ringen um die britische Identität. Das gilt besonders für jene, die den Brexit ausdrücklich oder implizit als wünschenswert betrachten. Bens Vater Colin zum Beispiel, der früher in einer Autofabrik bei Birmingham arbeitete und als Witwer noch unausstehlicher geworden ist. Colin ist ein "Gammon" wie er im Buche steht. Gammon, Kochschinken, so wird seit ein paar Jahren eine bestimmte Sorte älterer, weißer, männlicher Engländer genannt. Sie sind ausgesprochene Patrioten, für den EU-Ausstieg, gegen Immigration, Rassisten und haben wegen ihres oft alkoholbedingten hohen Blutdrucks saftig schinkenfarbene Gesichter. Sie sind das Fundament des Brexit. Colin schimpft darüber, dass kaum noch irgendwer Englisch spreche in seiner Heimat, und äußert als letzten Wunsch, noch beim EU-Referendum mit abstimmen zu können.

Marseille und Birmingham: Das sind verschiedene Daseinsformen

Helena, die Schwiegermutter von Bens Nichte Sophie, ist die großbürgerliche Variante, eine "euroskeptische" Bewunderin des rassistischen Tory-Politikers Enoch Powell, die ihre osteuropäische Haushaltshilfe ausnutzt und verachtet. Ihr Sohn Ian, Sophies Mann, scheint erst weltoffener zu sein. Sein rassistisches Ressentiment bricht dann jedoch durch, als ein dunkelhäutiger Kollege ihm bei einer Beförderung vorgezogen wird.

Nun spiegeln diese kleinkarierten Archetypen zwar durchaus die Wirklichkeit eines Landes, das Ende vergangenen Jahres einen mit rassistischen Tropen spielenden Lügner wie Boris Johnson zum Premierminister erkor. Aber als Leser von "Middle England" wünscht man sich oft, die literarische Umsetzung wäre subtiler, weniger absurd, weniger zugespitzt als die Realität, die in Brexit Britain ja schon länger weniger glaubwürdig ist als jede Fiktion.

Dass Coes Sympathien klar auf der Remainer-Seite liegen, daraus macht der Roman jedenfalls kein Hehl. Seine emphatisch pro-europäische Haltung findet zum Beispiel in einer Passage beredten Ausdruck, in der Sophie bei einer Reise zu einer Konferenz beim Anblick des in mediterranes Licht getauchten Marseille denkt: "Ja, das war, wie sie erkannte, der Aspekt, der ihr in England fehlte. Was für ein beschränktes, miserables Leben sie alle im Vergleich dazu führten in dem Land, das sie notgedrungen Heimat nennen musste." Marseille und Birmingham gehören nicht verschiedenen Welten, nicht einmal verschiedenen Planeten - sondern "unterschiedlichen Daseinsformen" an. Darin ist der Autor sich paradoxerweise mit den Brexiteers einig.

In kommenden Jahrzehnten, wenn die Einzelheiten der Brexit-Konvulsionen von neuen Katastrophen verdrängt worden sein werden, wird "Middle England" vielleicht als Referenzwerk für historische Details dienen. Als Roman bleibt es etwas zu schematisch. Aber eines hat das Buch zweifellos geleistet, und das ist nicht eben wenig: Er bietet die bisher beste Bestandsaufnahme einer Epoche, in der ein Land erst den Kopf und dann komplett die Orientierung verlor.

© SZ vom 02.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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