Seine erste Kamera? Hätten ihm fast die Soldaten abgenommen, die er als Junge zu fotografieren versuchte. Durch die Linse habe er zu spät bemerkt, dass deren Panzer plötzlich auf ihn zuhielt. "Doch dann konfiszierten sie nur den Film und gaben mir unerwartet die Kamera zurück", erzählte der Schriftsteller und Filmemacher Jonas Mekas bei einem seiner letzten großen Auftritte, auf der Documenta 14 in Kassel, wo der 94-Jährige, wie immer in Hut und Mantel, auf der Bühne präzise und schlagfertig antwortete.
Ganz gleich ob man ihn zu Filmen oder Fotografien befragte, stets wirkte es, als würden Zeitgeschichte und Avantgarde in besonderer Weise auf diesen Mann einwirken; als wären sie seine selbstverständlichen Begleiter. Als Jonas Mekas hoch betagt nach Deutschland gekommen war, um seine Fotografien, biografischen Filme und vor allem sein Tagebuch "Ich hatte keinen Ort" vorzustellen, war das einer der Momente, in denen die Bedeutung des Begriffs "zeitgenössisch" wirklich fühlbar wurde. Am gestrigen Mittwoch ist Jonas Mekas in New York im Alter von 96 Jahren gestorben.
"Keine Nachfrage nach Dichtern"
Die Fotografien, die während der Documenta ausgestellt wurden, waren eben dort, in Nordhessen, von Mekas nach dem zweiten Weltkrieg aufgenommen worden, als er dort mit seinem Bruder als "Displaced Person" festsaß. Der 1922 in Biržai in Litauen geborene Jonas Mekas und sein Bruder Adolfas hatten das Kriegsende in einem Zwangsarbeiterlager bei Hamburg erlebt. Bis zur Ausreise in die USA im Jahr 1949 studierten die beiden Philosophie und Literatur in Mainz und wollten danach eigentlich nach Israel auswandern. Weil sie keine Juden waren, erhielten sie keine Genehmigung. "Keine Nachfrage nach Dichtern" hatte Mekas damals in seinem Tagebuch notiert.
In New York, wo die Brüder das Magazin Film Culture gründeten, wurde Mekas in den Fünfzigerjahren als Filmer zu einer Schlüsselfigur des New American Cinema, der mit Künstlern wie George Maciunas, Andy Warhol und Yoko Ono zusammen arbeitete und die Film-Makers' Cinematheque gründete, ein Zentrum für Filmexperimente. Doch nahm in den vergangenen Jahrzehnten auch die Kunst Jonas Mekas und sein Werk auf: Das ZKM in Karlsruhe, die Londoner Serpentine Gallery und das Centre Pompidou in Paris widmeten ihm und seinem Werk Ausstellungen und Retrospektiven. Nicht nur die Fotografien, vor allem auch die häufig biografischen Filme befruchteten Video- und Filmexperimente mehrerer jüngerer Generationen.
Zudem plante Mekas ein eigenes Museum für die von ihm gegründeten Anthology Film Archives, die international bedeutendste Sammlung zur Avantgarde-Filmkunst. Das Zentrum hätte ihn erlöst von der Funktion des Wächters über diese außerordentliche Kollektion. Bis zu seinen letzten Tagen lebte der hagere Mann mit seinem Sohn inmitten von Filmplakaten, Artikeln, Filmrollen und Fotos. Nachts rollten die beiden zwischen Schränken ihre Matratzen aus.
Die Zuversicht, mit der Mekas noch in den vergangenen Monaten Mittel für den Bau dieser Institution einwarb, wirkte nicht nur energisch, sondern auch uneitel: In vollem Wissen um seine künstlerischen und kuratorischen Leistungen nahm er sich selbst als Person nicht wichtig. "Wann immer ein litauischer Dichter oder Dramatiker einen Text mit historischem Hintergrund verfasst, heißt üblicherweise einer der Charaktere Mekas", teilte er seinen Lesern gleich zu Anfang seiner Tagebücher mit. Die Sehnsucht, mit der Jonas Mekas zeitlebens seiner litauischen Heimat, Familie und Sprache nachspürte, diese Grundbewegung seines Werks, schloss niemanden aus; sein brummiger, lakonischer Ton verbot es anderen, ihn als Einzelschicksal zu betrachten. Und jedes unnötige Sentiment. Als er von der New York Times im vergangenen Jahr befragt wurde, ob er den Tod fürchte, reflektierte er über diesen "ganz normalen Übergang": "Hinter dieser Linie liegt das Mysterium, wo es wirklich interessant wird. Es gibt kleine Einblicke in den Botschaften, die von dort kommen", sagte Mekas. "Und ich glaube das alles. Mehr als all das, das seit dem 12. Jahrhundert geschrieben wurde."