Süddeutsche Zeitung

Jon Fosses Roman "Ich ist ein anderer":Angriff auf die Zeit

In den Romanen des norwegischen Schriftstellers Jon Fosse vergeht die Zeit so langsam, als wollte sie zum Stillstand kommen. Lässt sich das Vergehen aller Dinge so vielleicht tatsächlich aufhalten?

Von Thomas Steinfeld

In einem allein gelegenen Haus über einem norwegischen Fjord wohnt ein Maler namens Asle. Er heizt mit einem Kaminofen, er trägt immer die gleiche schwarze Samtjacke, und wenn er in seinem Sessel sitzt, schaut er immer wieder auf denselben Punkt über dem Wasser. Asle ist allein, und er kennt nicht viele Menschen: den Bauern Åsleik, dessen Hof einen Kilometer entfernt liegt und der ihm in praktischen Dingen hilft. Den Galeristen Beyer, der in der nächsten Stadt lebt und die Bilder des Malers verkauft.

Darüber hinaus tritt ein anderer Maler auf, der nicht nur ebenfalls Asle heißt, sondern darüber hinaus dem ersten Asle bis auf den dünnen grauen Zopf gleicht. Auch diese Figuren sind jeweils allein. Im Lauf der Erzählung lösen sich ein paar andere Menschen aus den Kulissen. Einige von ihnen erscheinen wie Asle und Asle im Doppel. Das Personal eines Theaterstücks könnte so beschaffen sein, mit Figuren, die auf die Bühne treten, als wären sie aus notwendig engen Verhältnissen ausgeschnitten.

Tatsächlich schrieb der Autor dieser Geschichte in früheren Jahren eine ganze Reihe von Dramen. Etliche von ihnen wurden auch in deutschen Theatern gespielt. Hier aber handelt es sich um eine lange Erzählung. Es könnte auch nicht anders sein. Und um es gleich zu sagen: Jon Fosses jüngstes Werk ist ein außerordentlicher Roman, einzigartig in seinem Ton, sorgfältig in seiner Anlage und von fast unheimlicher Tiefe.

Langsam geht die Handlung voran, in einem unendlichen Fluss der Bilder und Gedanken

Der Roman ist eine "Heptalogie", besteht also aus sieben Büchern. Die ersten beiden, in einem Band zusammengefasst, waren im Herbst 2019 unter dem Titel "Der andere Name" auf Deutsch erschienen. Den drei folgenden Büchern, die in diesen Tagen wiederum in einem Band veröffentlicht wurden, lieh Arthur Rimbaud die Überschrift: "Ich ist ein anderer". Und so wie dieser Satz eine Programmerklärung der ästhetischen Moderne war, eine Zauberformel für lyrische Grenzüberschreitungen aller Art, so liegt diesem Roman die Absicht zugrunde, die Prosa bis an die Grenze des Sagbaren und darüber hinaus zu treiben.

Langsam geht die Handlung voran, in einem unendlichen Fluss der Bilder und Gedanken, die ineinander kreisen und immer wieder zu denselben Ideen oder Ereignissen zurückkehren, ohne Punkt und Absatz, aber mit vielen Kommas. Es dauert eine Weile, bis der Leser sich dem trägen Fluss der Dinge anvertraut.

Dann lässt er es geschehen, und allmählich wird deutlich, was Jon Fosse mit dieser Technik bezweckt: Sie ist ein Angriff auf die Zeit. Sie ist der Versuch, sich gegen ein nihilistisches Prinzip aufzulehnen, in dem jede Sekunde, die vergeht, die vorangehende Sekunde auslöscht. Am Ende wird die Zeit sich nicht besiegen lassen, ahnt der Leser. Aber bis dahin kann sie sehr langsam werden.

Eine Frist von zwei Tagen in der Vorweihnachtszeit umspannten die ersten beiden Bücher: Asle war in der Stadt, die Jon Fosse mit "Bjørgvin" bezeichnet, dem mittelalterlichen Namen für Bergen. Im Schneetreiben fährt er den langen Weg nach Hause, denkt daran, nach seinem Doppelgänger zu schauen, einem Alkoholiker, lässt es aber bleiben. Dann ergreift ihn eine Eingebung. Er kehrt nach Bjørgvin zurück, findet den zweiten Asle, der im Delirium in einer Gasse zusammengebrochen ist und nun daliegt, während die Flocken ihn allmählich zudecken.

Ein Versuch, den Kollaps in einer nahe gelegenen Kneipe mit mehr Alkohol zu kurieren, schlägt fehl, und so landet der Mann mit dem "anderen Namen" auf der Intensivstation, unerreichbar auch für seinen Freund, der mit dem Hund des Kranken zurückbleibt. In diese Geschichte hinein flechten sich die Erinnerungen des ersten Asle, an seine verstorbene Frau, an seine Errettung vor dem eigenen Alkoholismus und die Hinwendung zum katholischen Glauben, an seine Auseinandersetzungen mit der Kunst, die ihn, auf der Suche nach einer höheren Wahrheit als der gegenständlichen, in die abstrakte Malerei führten. Die Erinnerungen können sich zu Traumgebilden verdichten, die sich in die Wirklichkeit hineinschieben, als wären sie ein Teil der Gegenwart. Anstatt voranzuschreiten, vervielfacht sich die Zeit, wobei nicht immer auseinanderzuhalten ist, was geschehen ist und was hätte geschehen können.

Das letzte Bild, das der Maler fertigstellt, besteht nur noch aus zwei Strichen

Als müsse der Gang der Ereignisse weiter verlangsamt werden, geschieht im nun vorliegenden zweiten Band, von außen betrachtet, immer weniger: Asle fährt noch einmal nach Bjørgvin, um dem Galeristen die Gemälde für die jährliche Ausstellung zu übergeben. Er scheitert bei dem Versuch, seinen Doppelgänger zu besuchen, eine Frau tritt auf, die vielleicht eine alte Geliebte und vielleicht die Schwester des Bauern Åsleik ist. Im Inneren der Geschichte aber gibt es immer mehr zu erzählen, von der Kindheit am Fjord, von den ersten Malversuchen, von den Erfahrungen mit einer elektrischen Gitarre (sie werden schnell aufgegeben), mit dem Alkohol (sie werden nach langer Zeit aufgegeben) und dem Tabak (noch so eine vergangene Sucht).

Die Geschichte von der verlorenen Frau verdichtet sich, die Anfänge des Doppelgängertums werden entfaltet. Und in Asle wächst die Gewissheit, sein letztes Bild gemalt zu haben: ein Bild, das nur aus zwei Strichen besteht, einem braunen und einem violetten, die sich in der Mitte des Gemäldes kreuzen, während die Farbe ein wenig verläuft. Es ist fertig, meint Asle, und es ist, wie es scheint, ein Lebenswerk.

Selbstverständlich ist Asles Vorstellung, die Wahrheit seiner Kunst liege in einem Jenseits des unmittelbar Sichtbaren, ein Rückgriff auf die Anfänge der abstrakten Malerei, auf Ideen, wie sie auch Hilma af Klint oder Wassily Kandinsky hegten und zur Grundlage einer letztlich esoterischen Ästhetik machten. Auch die Sprache mit ihren minimalistischen Mitteln ist eine Reminiszenz, an Samuel Beckett oder Thomas Bernhard: "... aber was das Bild wirklich zum Leuchten bringt, ist das dünne Weiß, das hier und da von mir gemalt wurde, als ich das Bild im Dunkeln angesehen habe, es sind klare Bewegungen, es sind diese weißen und ein paar schwarze Bewegungen, die das Licht zum Leuchten bringen, ja die das Licht jedenfalls stärker machen, ja auf seine ganz eigene Weise, und während ich dieses Bild jetzt ansehe, denke ich, dass ich auch dieses Bild gern behalten würde ..." Doch ist Jon Fosse weder Asket noch Esoteriker. Er hält lediglich daran fest, dass es so etwas wie eine ungeteilte Wahrheit geben soll, im Gegensatz zur Freud- und Geistlosigkeit der allseits herrschenden Verhältnisse.

Der Katholizismus erscheint hier als eine Sehnsucht nach einem lichteren Leben

Weder der Erzähler noch der Autor scheinen wirklich an ein Jenseits zu glauben, trotzdem sind beide zum Katholizismus konvertiert. Die katholische Religion steht eher für einen Weltzustand, in dem selbst ein hohes Maß an Geist nicht in Widerspruch zu den Körpern gerät, anders als bei vielen Varianten der Selbst- und Sinnenverleugnung, mit denen eine vom Protestantismus oder (was oft dasselbe ist) von den Idealen der Selbstoptimierung geprägte Gesellschaft ansonsten aufwartet.

Anders gesagt: Der Katholizismus erscheint hier als eine durch Riten gezähmte Sehnsucht nach einem lichteren, nicht von Verfall und Tod bedrohten Leben. Deswegen die Verwandtschaft mit der Sucht, deswegen auch die häufige Verwendung des Rosenkranzes, der ja, weil er immer wieder von vorn beginnt, in sich ein Einspruch gegen das Vergehen der Zeit ist. Asle und sein Autor wären echte Kulturkatholiken, wenn man das Wort denn anders als in einem abwertenden Sinn gebrauchen könnte.

In Norwegen sind die letzten beiden Bücher der "Heptalogie" schon erschienen, zur hellen Begeisterung der heimischen Kritik, der selbstverständlich auffiel, dass es in diesem Werk sehr norwegisch zugeht: Von der Landschaft ist ebenso die Rede wie vom Bootsbau, die Entfernungen sind groß, und das Wetter ist schlecht. Die einsamen älteren Männer in ihren befestigten Hütten erscheinen ebenso vertraut wie ihre Neigung zu Rührei mit Speck und ihre Verlegenheit im Umgang mit der freien Rede. Doch scheint Jon Fosse mit diesem Kammerspiel in (buchstäblich, Dialoge ausgenommen) Fließtext etwas weitaus Größeres zu gelingen als eine Variation auf ein bekanntes Thema aus dem Norden: Es gibt nicht viele literarische Werke, die über eine Suche nach der verlorenen Zeit tatsächlich noch etwas Vernünftiges sagen könnten.

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