Leipzig liest:Recht auf Unsichtbarkeit

Leipzig liest: In der Linie 6 der Pariser Metro: Fotografie von Johny Pitts

In der Linie 6 der Pariser Metro: Fotografie von Johny Pitts

(Foto: © Johny Pitts courtesy of the artist)

Integration und Melancholie: In Leipzig wurde der Buchpreis zur europäischen Verständigung an die Autoren Johny Pitts und László F. Földényi verliehen.

Von Lothar Müller und Felix Stephan

Als der englische Autor Johny Pitts am Mittwoch zur Eröffnung der digitalen Leipziger Buchmesse den Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung entgegennahm, war viel vom Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie die Rede. Pitts ist in einer Familie aufgewachsen, die selbst im ohnehin schon armen Arbeiterviertel der deindustrialisierten Arbeiterstadt Sheffield noch als arm galt, in dem aber zwei Dinge dann doch erstaunlich gut funktionierten: die europäische Identität und der Multikulturalismus. Dass Sheffield zu Europa gehöre, sei in seiner Kindheit so selbstverständlich gewesen, dass es keinen Anlass gab, darüber auch nur nachzudenken, sagte Pitts, aus England zugeschaltet bei der Preisverleihung.

2010 erklärten dann verschiedene europäische Politiker, darunter David Cameron und Angela Merkel, den Multikulturalismus für gescheitert, und in Großbritannien wuchs der Nationalismus. Johny Pitts, der von den Bedeutungsträgern seiner Kindheit nicht lassen wollte, kaufte sich ein Interrail-Ticket und brach zu einer Reise durch Europa auf, um diese Verlustmeldungen am lebenden Objekt zu überprüfen. Aus dieser Reise ging sein Buch "Afropäisch" hervor, für das er jetzt in Leipzig ausgezeichnet wurde.

Er besuchte unter anderem ghanaische Rastafaris in Berlin, die Favelas vor Lissabon, die Banlieues vor Paris, die Patrice-Lumumba-Universität in Moskau, ein improvisiertes sudanesisches Café im sogenannten Dschungel von Calais. Und fand dort jeweils eine schwarze, europäische und auf ihre Art blendend funktionierende Gesellschaft vor, deren Alltag länderübergreifend auf sehr ähnliche Weise geprägt ist von Armut und Rassismus.

Multikulturalismus funktioniere am besten, wenn er nicht kommerzialisiert sei

Am Ende stand die Beobachtung, dass es so etwas wie eine afroeuropäische Kollektividentität gibt, die für Engländer genauso anschlussfähig ist wie für Portugiesen, Deutsche und Franzosen. Das war keine kleine Entdeckung, zum ersten Mal habe er sich nicht als Zwischenexistenz, als Bürger mit einer "Bindestrich-Identität" zu begreifen, sondern als komplett.

Im Geiste Toni Morissons wollte er sich an der Peripherie aufhalten und darüber schreiben, als sei sie das Zentrum, sagte Pitts in Leipzig. Auf seiner Reise habe er festgestellt, dass Multikulturalismus am besten funktioniere, wenn er weder kommerzialisiert, noch zentral organisiert sei. Die Laudatorin Elisabeth Ruge sah in diesem Entwurf die "Opazität" erfüllt, die der Philosoph Édouard Glissant in seinen archipelischen pensées zur postkolonialen Identitätsfindung in den Achtzigern ins Spiel gebracht hat. Integration findet in dieser Begriffswelt erst dann statt, wenn nicht nur das Recht auf Differenz allgemein anerkannt ist, sondern auch das Recht auf Unsichtbarkeit.

Aus Ungarn, aber nicht aus der geistigen Peripherie Europas war László Földényi angereist, 1952 in Debrecen geboren, Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler, Essayist. Der Preis für Europäische Verständigung wurde ihm vergangenen Jahr für sein Buch "Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften" zugesprochen, aber er hatte ihn wegen Absage der Messe nicht entgegennehmen können.

Nun stand er am Rednerpult in der Nikolaikirche und erwog, was er in Zeiten der Krise nicht nur des Wirtschaftslebens und der Finanzwelten anstatt der Melancholie mit guten Gründen hätte loben können. "Die freie Rede, die offene Gesellschaft, den Umweltschutz, den Liberalismus, eine Politik, die sich dem entfesselten Kapital widersetzt." Doch blieb er beim Lob der Melancholie.

Die Melancholie sei einer der ältesten Begriffe der europäischen Kultur

Es gehe ihm mit ihr wie dem heiligen Augustinus mit der Frage, was die Zeit sei. Wenn niemand mich danach fragt, sagte Augustinus, weiß ich es. Wenn ich es einem Fragenden erklären soll, weiß ich es nicht. Wer Földényis kurze Dankesrede zuhörte, mochte ahnen, dass er es der Melancholie nicht als Mangel anrechnet, dass sie sich der begrifflichen Fixierung hartnäckig entzieht, widersprüchliche Bestimmungen anzieht.

Als er sie als einen der ältesten Begriffe der europäischen Kultur aufrief, als den schwarzen Schatten jeder Selbstgewissheit, als Quelle des Zweifels und Einspruchs gegen jede Hybris und alle Allmachtsillusionen, klang das Lob der Melancholie wie ein Echo des alten christlichen Memento mori. Der säkulare Unterbau dazu findet sich in Földényis Buch. Es besteht zu großen Teilen aus Kommentaren zu Werken der bildenden Kunst aus Vergangenheit und Gegenwart, doch führt es aus der politischen Welt nicht hinaus.

In Giorgiones Gemälde "Das Gewitter" hebt es ein Detail hervor, den Ziegelblock, der in der Landschaft steht und eine Marmorplatte trägt, auf der zwei abgebrochene Säulen stehen. Wie ein Grabmal wirkt dieser Block in Giorgiones Ruinenlandschaft, der ungarische Bildhauer György Jovánovics hat ihn 1995 im dreidimensionalen Raum rekonstruiert und Reminiszenzen an Girogione in den Sarkophag seines "Denkmals für die Märtyrer der Revolution von 1956" eingebaut.

Die Essays von László Földényi öffnen Denk- und Bildräume. Das jüngst aufgekommene Lamentieren über die Auszeichnung "debattenferner Bücher" in Leipzig verengt sie.

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