John Lennons Briefe als Buch:Träumer, Genie, Arsch

"Lieber Fernando, ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ!". Manchmal ist es einfach nur Unsinn, dann wieder lieb und rührend, kalt und brutal, geistreich und albern: John Lennon ersteht in seinen Briefen, Notizen und Kritzeleien wieder auf. In einem Ziegelstein von Buch, mit dem man den halben Winter verbringen kann.

Max Fellmann

John Lennon

John Lennon im November 1966 - sein ewiges Paradox zeigt sich in allen Briefen.

(Foto: dpa)

Bitte, wie großartig wäre es, wenn man heute John Lennon treffen könnte? Wenn er noch lebte? Und man tatsächlich einen Termin bekäme? Man würde so gern erfahren, wie er wirklich war, wie er gedacht, wie er funktioniert hat. Tja. Geht nicht. Aber dann kommt auf einmal dieser Ziegelstein von einem Buch daher - und ja, näher wird man Lennon nicht mehr kommen können als hier: "The John Lennon Letters", über 400 Seiten, eine riesige Sammlung von Briefen, Notizen, Karten, Manuskripten, Zeichnungen, Kritzeleien, To-do-Listen und Anweisungen für Mitarbeiter.

Gesammelt hat sie Hunter Davies, einer der wichtigsten Beatles-Experten. Der hat in den Sechzigern die einzige autorisierte Band-Biografie geschrieben, er blieb sein Leben lang ein echter Beatlemaniac. Und es ist unglaublich, was er hier zusammengetragen hat. So viel Verschiedenes. So viel Überraschendes. Man lernt das Phänomen Lennon tatsächlich besser verstehen.

Das ewige Paradox zeigt sich in allen Briefen: der Mann, der seine Stimme für den Weltfrieden erhob - aber kalt und brutal zu seinen nächsten Menschen sein konnte; der Star, der die Welt mit Liebe verzaubern wollte und zugleich voller Hass war; der Songwriter, der genau wusste, was er an Paul McCartney hatte - und ihn doch jahrelang öffentlich anpinkelte. Ein Held, ein Träumer, ein Genie, ein Arsch.

Lennon war der Einzige der Beatles, der Worte jenseits der Songs künstlerisch benutzte. Er veröffentlichte zwei Bände mit Kurzgeschichten, Gedichten und surrealistischer Prosa. Von seinen Briefen und Notizen durfte man also etwas erwarten. Aber es ist dann alles noch großartiger.

Man staunt, wie lieb und rührend er sein konnte. Zum Beispiel in den Karten und Briefen an seinen Sohn Julian, der von ihm getrennt lebt. Oder in der frühen Antwort an einen 14-jährigen Fan, 1963: "Liebe Sandra (. . .) Ja, ich bin verheiratet (. . .) Ich hoffe, das wird Dich nicht davon abhalten, mich zu mögen." Bei diesem Brief, wie bei vielen weiteren, beeindruckt Davies' Fleiß: Er hat mit dieser Sandra gesprochen und lässt sie berichten, warum sie 1982 beschloss, den Brief zu verkaufen (drei Kinder, kaputte Waschmaschine, kein Geld).

Lennon ist auf angenehme Art albern, grüßt in offiziellen Schreiben auch mal mit "Von den Beatles (man kann sie für gesellschaftliche Veranstaltungen buchen)", fragt seinen Cousin nach der Trennung der Band, ob der wisse, wo er, Lennon, als Busfahrer anfangen könne, und füllt die meisten seiner Grußschreiben mit kleinen Zeichnungen, die auch boshafte Scherze immer liebevoll abfedern.

Spannend wird es in den späteren Beatles-Jahren. Da kommt der ganze Wahnsinn: Bewusstseinserweiterung, Drogen, Experimente. Lennon nutzt seine Briefwechsel auch für philosophische und politische Reflexionen. Im Brief an eine Bekannte kritzelt er beiläufig große Gedanken: "Die einzige Möglichkeit, allen Menschen eine bestimmte Botschaft zu vermitteln, besteht darin, sie bekannt zu machen - wir leben im 20. Jahrhundert. Meinst Du nicht, auch Jesus würde im Fernsehen auftreten, wenn er heute lebte?"

"Ich wette um Deinen Anteil an Apple"

Fies konnte er sein. 1969 schreibt ein junger Journalist einen Verriss des Songs "Revolution" und argumentiert, John, der Pop-Millionär, beziehe pseudoradikale Positionen. Lennon antwortet in einem offenen Brief: "Was glaubst Du denn, wer Du bist? Was weißt Du überhaupt?" Er verteidigt seinen Wohlstand, er klagt über gescheiterte Revolutionen, ein einziger Wutrausch, bis er versucht, sich zu beruhigen: "Okay. Ich trinke jetzt eine Tasse Tee. Ich mache mir keine Sorgen über das, was Du - die Linke - die Mitte - die Rechte oder irgend ein beschissener Boys Club denken. So bourgeois bin ich nicht." Die ganze Wut eines gebrochenen Idealisten, der die Widersprüche seines Lebens selbst erkennt, aber genau deshalb durchdreht, wenn andere sie ihm unter die Nase reiben.

Er schreibt 1971 an George Martin, weil er findet, dass der sich zu selbstgefällig über seine Rolle als Beatles-Produzent geäußert habe: "Wenn der Kameramann Ruhm beansprucht, der dem Regisseur gehört, geht das etwas zu weit." Er be-schimpft Paul McCartney, als die Band in Schutt und Asche liegt, und zählt ihm jede "kleine Lüge in Deinem ,Ich bin's doch nur, Paulie'-Auftritt" auf. Im selben Brief aber schwärmt er ihm von New York vor ("Ich wette um Deinen Anteil an Apple, dass Du 1974 in New York leben wirst" und nennt ihn, halb Liebe, halb Hass, "meinen zwanghaften alten Kumpel".

Immer wieder wunderschöne Kleinigkeiten

Die Auseinandersetzungen, die Arbeit an den Platten, seine zeitweise Abkehr von der Welt, all das lässt sich hier in endlosen Details nachvollziehen. Lennon ist ein geistreicher, wilder, unterhaltsamer Briefeschreiber, oft springt er von Gedanken zu Gedanken, schneidet Themen an, bricht ab, rastlos, ruhelos. Interessant die Briefe, die er mit Maschine geschrieben hat: Viele Halbsätze, getrennt mit mehreren Punkten, so entstehen Stream-of-Consciousness-Texte, die eher nach protokolliertem Telefonat klingen als nach Schriftsprache.

Und dann, zwischen Weltgeschehen und Philosophie, immer wieder wunderschöne Kleinigkeiten. Vor allem die Postkarten. Jeder kennt das aus dem Urlaub, man weiß nie, was man da schreiben soll. Lennon macht das einzig Richtige und schreibt einfach lustigen Unsinn. "Lieber Fernando, ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ!" "Lieber Ringo, liebe Mo. Wir sind hier, und Ihr seid dort. Das ist, so sehen wir es jedenfalls, eine Tatsache. Eure Amerikaner, liebe Grüße, John + Yoko".

Herrlich auch die ganzen Zettel, die Menschen aus Lennons Umfeld aufbewahrt haben. Die Einkaufszettel mit spöttischen Anmerkungen. Die Listen, auf denen er Songs kommentiert. Oder der Weihnachtsgruß (den er dann doch nicht verschickt): "Hier ist der Große Wok. Er spricht zu Euch aus dem Herzen von West Side Manhattan. Ich freue mich, meinem Volk meine Jahresbotschaft verkünden zu können. Mein Entschluss für das Jahr 1979 steht fest: Ich werde vollständig auf alles verzichten, nur auf totalen Selbstgenuss + Luxus nicht."

"Das könnte hilfreich sein, Bruder"

Man kann in diesem Buch auf jeder einzelnen Seite erkennen, wie Lennon denkt, wie er ständig auf Hochtouren ist, ideenreich, phantasievoll, verschwenderisch. Fast alle Briefe sind als Faksimile zu sehen (diese Handschrift!), dazu noch einmal transkribiert. Der Herausgeber ordnet jeden Brief historisch ein und liefert gewaltige Mengen an Hintergrundwissen. Als Leser versteht man dadurch immer, worauf sich die Formulierungen und Anspielungen beziehen. Zum Beispiel die Erklärung, dass das Wort "Chrimbo" in einer Weihnachtskarte "Johns Wort für Weihnachten" ist. Oder die Geschichte zu dem überraschend genervten Schreiben an einen Fan: Der hatte Lennon ein spirituelles Buch geschickt. Hunter erläutert, dass der Fan Lennon arg altväterlich guten Rat angeboten und dazu geschrieben hatte, "Das könnte hilfreich sein, Bruder" - und man freut sich sofort an Lennons boshafter Reaktion: Er legt seinem Brief ein Werbe-Streichholzbriefchen bei und schreibt drauf, "Das könnte hilfreich sein, Bruder."

Überraschend interessant ist die Einführung, in der Hunter Davies erklärt, wie er an manche der Briefe gekommen ist. Lauter kleine Geschichten, in denen erkennbar wird, wie sehr die Beatles die Menschen berührt, welch gewaltige Rolle sie in ihrem Leben gespielt haben. Der Fan, der einen Brief besaß, den dessen Vater später in Geldnot verkaufte - die beiden redeten nie wieder miteinander. Der Lennon-Verehrer, der so lang mit unwichtigeren Schriftstücken handelte, bis er sich ein richtig wertvolles Manuskript leisten konnte, das er heute im Safe verwahrt. Das Buch zeigt mehr als nur Lennon, es zeigt immer auch eine ganze Welt, die sich durch vier Musiker aus Liverpool verändert hat.

Vor allem aber leistet das Buch genau das, was man kaum zu hoffen gewagt hätte: Es lässt John Lennon auferstehen, macht ihn lebendig, greifbar, man glaubt beinahe, ihn sprechen zu hören. Davies versucht keine akademische Überhöhung, keine Interpretation, er liefert einfach nur Material, Material, Material. Es gibt genug Bücher über Lennon und die Beatles, kluge und hilflose, erklärfreudige und akribische. Hier kann der Leser selbst Schlüsse ziehen, sich Lennon als Menschen vorstellen. Wenn jeder Brief ein unangemeldeter Besuch ist (wie Friedrich Nietzsche meinte), dann ist es ein Glück, dass jetzt die Abende lang und kalt sind: Mit diesem Besuch kann man problemlos den halben Winter verbringen.

The John Lennon Letters. Herausgegeben von Hunter Davies. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Werner Roller. Piper Verlag, München 2012. 416 Seiten, 128 Euro.

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