Süddeutsche Zeitung

John Cale zum 70.:Radikal vielseitig

So ziemlich jedes Musik-Genre wurde schon von ihm bespielt. Der Waliser John Cale ist sowohl Rock-Musiker, Dirigent, Produzent von Filmmusik und auch Hobby-Historiker. Zusammen mit Lou Reed gründete er in den 60ern die Band "Velvet Underground", die bis heute die meist kopierte Rock-Band aller Zeiten ist.

Diedrich Diederichsen

Vor knapp vier Jahren gab es im abgelegenen walisischen Pavillon der Venedig-Biennale eine Fünf-Kanal-Video-Installation, in der nicht nur eine spröde Kamera Backsteinwände in Spukhäusern absuchte, sondern auch ein Männerkörper sich der berüchtigten Foltermethode des Waterboarding unterzieht. Das Haus war das Geburtshaus des Künstlers im walisischen Garnant, der geschundene Körper gehörte ihm auch. Der Autor dieser Installation hatte in der Welt der Klänge schon so ziemlich jedes Genre bespielt und jede Rolle eingenommen, als Bildender Künstler war der Mittsechziger ein Debütant; als einer der bekanntesten bekennenden Waliser aber dennoch eine nahe liegende Wahl für den nationalen Pavillon: John Cale.

Gern wird der Anspruch verkündet, einer sei in der Hochkultur genauso zu Hause wie im Rock'n'Roll. Aber es gibt nicht viel mehr als diesen einen Fall, in dem einer sowohl zur so genannten seriösen Musik wie zum Rock (mindestens) je eine historische Tat von Jahrhundertdimensionen beigetragen hat. Als der Bergarbeitersohn 1963 in die USA kam, lernte er nicht nur John Cage kennen und half ihm bei dessen mehrtägigen Uraufführung von Erik Saties "Vexations".

Er spielte seine nach den Regeln der "just intonation" gestimmte Viola auch als Mitglied jenes Theatre of Eternal Music mit La Monte Young und Tony Conrad, das damals gegen den Darmstädter Serialismus die Minimal Music entwickelte: vielleicht den erfolgreichsten amerikanischen Beitrag zur Konzertmusik des 20. Jahrhunderts. Zwei Jahre später gründete Cale mit Lou Reed The Velvet Underground - die meist kopierte Rock-Band ever, Blaupause für Punk und die vielen unsterblichen Spielarten des globalen Indie-Rock.

Cale brachte die Aggression stundenlanger Drone-Experimente in das fragile Gefüge einer Band, in der schon der Literat Lou Reed und das Model Christa Päffgen, genannt Nico, Aufmerksamkeit beanspruchten, ganz zu schweigen von den Peitschentänzen und der Exploding Plastic Inevitable Light Show, mit der Mentor Andy Warhol die Auftritte der frühen Velvet Underground garnieren ließ.

Reed setzte sich durch, Cale ging seine sehr eigenen Wege. Er produzierte die Debüts von allem, was in der Rock-Musik jener Epoche heute noch von Belang ist und auch ohne Retro-Kulte immer war: The Stooges, Patti Smith und Jonathan Richman - und nahm unter eigenen Namen Minimal-Musik unter anderem mit dem mittlerweile fruchtbarsten Vertreter der Bewegung, Terry Riley, auf.

Leute haben ihn schon immer gelangweilt

Doch nach der Produktion von unversöhnten Rock wie dem der Stooges oder des hochbizarren Sirenen-Surrealismus von Nico, die er mit asbestschönen Arrangements versorgte, reüssierte Cale in den Siebzigern ausgerechnet als sanfter Songwriter, der sich mit der Zärtlichkeit der Wölfe in der Stimme über delikate literarische Bilder beugte und sich dabei vom exquisiten Boogie-Rock der Little Feat oder seiner selbst ausgedachten Minimal-Symphonik begleiten ließ.

Heute lebt Cale von den Vorräten seiner radikalen Vielseitigkeit: oft als Rock-Musiker und Dirigent, regelmäßig aber als Schöpfer und Produzent von Filmmusik, wie sie viel von französischer Arthouse-Kundschaft geordert wird. Er ist ein versierter Hobby-Historiker, der sich für Imperialismen und ihre Schrecken interessiert, nicht nur die Folter. Sein Meisterwerk, den Song-Zyklus "Paris 1919" von 1974 hat er in den vergangenen Jahren originalgetreu neu aufführen lassen.

Darin klagt einmal ein Weltkrieg-I-Spion über seine wohlgenährten Auftraggeber in Berlin und schließt: "Eigentlich haben mich Leute immer schon gelangweilt." Dieses sich durch Zornentladungen immer wieder selbst dementierende Desinteresse zieht sich als ergreifendes Understatement durch das vielfarbig schillernde Werk des seit heute 70-Jährigen.

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SZ vom 09.03.2012/mapo/pak
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