Kunstkritik:Dunkel jenseits des Bildes

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John Berger, 1926 in London geboren, gestorben 2017 in der Nähe von Paris, war neben vielem anderen Autor des Klassikers "Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens".

(Foto: imago/Leemage)

Ein bisher unveröffentlichter Essay von John Berger über das Stillleben - und noch einiges mehr über Vermeer als ersten Skeptiker unter den Malern, über Piero della Francesca, über Mark Rothko.

Von Thomas Steinfeld

Wer ein Porträt male, sagt der britische Kunstkritiker und Schriftsteller John Berger, fordere die Sterblichkeit heraus. Der Mensch, den das Bild zeigt, ist in nur einem Augenblick seines Lebens festgehalten, und dieser Moment ist flüchtig. Er vergeht in unendlich vielen, gleichermaßen dahinfliegenden Augenblicken, an deren Ende der Tod steht. Wer ein Historienbild male, sagt John Berger, fordere die Geschichte heraus. Sein Gegenüber ist das Vergessen, dem man, weil man es mit großen Mächten, politischen Interessen und also mit Fiktionen zu tun hat, vermutlich mit den Mitteln der Kritik beikommen muss.

Und was ist mit dem Stillleben? Dem Genre, dessen Gegenspieler, John Berger zufolge, "der Zufall, der Trödelhändler und der Gerichtsvollzieher" sind? Es ist, glaubt man dem Theoretiker des Malens, das anspruchsvollste künstlerische Genre überhaupt. Denn sein eigentliches Sujet seien nicht die Blumen, das Wildbret oder der Hausrat. Sein eigentliches Sujet sei das "Dunkel" jenseits des Bildes, "die Finsternis, in der alles unsichtbar wird".

John Berger war ein Mann von vielen Fertigkeiten: Maler und Romancier, Lehrer und Journalist, Abenteurer, Motorradfahrer, Kunsthistoriker. Vor allem aber war er, ausweislich seines erfolgreichsten Buches, der "Kunst des Sehens" aus dem Jahr 1972, ein Materialist, der dem modernen Kunstmarkt vorwarf, eine "unechte Religiosität" zu erzeugen.

Wovon zeugt dann aber die Lehre von der absoluten Finsternis im Jenseits eines Gemäldes? Nicht fromm ist der Gedanke, der John Berger in die Dunkelheit führt, sondern grundsätzlich. Die Maler von Stillleben, meint er, beschäftigten sich mit der Frage: "Warum ist etwas nur da?" In der Konsequenz dieses Gedankens sind Stillleben nicht etwas Beschauliches, nicht Denkmäler "ihrer Objektivität und Geistesruhe", wie Arthur Schopenhauer meinte, sondern Ausdruck einer existenziellen Beunruhigung. Das Stillleben setzt nicht nur eine Gegenständlichkeit. Es widerruft sie auch, im Akt des Setzens.

Eine Darstellung des Sichtbaren im Umgang mit dem Unsichtbaren

Bergers bislang unveröffentlichter Essay über das Stillleben ist der längste und bedeutendste Beitrag in einem schmalen Band, der sich als Einführung in ein kunstkritisches Werk eignet, das im deutschen Sprachraum nicht die Aufmerksamkeit erhalten hat, die es verdient - vielleicht, weil er in Zeitungen und Publikumsverlagen veröffentlichte, vielleicht, weil er seine Gelehrtheit, stets direkt auf seinen Gegenstand zugreifend, gern verbarg, vielleicht, weil ihm das Akademische fremd war, so wie er dem Akademischen fremd blieb.

Der Essay über das Stillleben ist indessen nicht die einzige intellektuelle Überraschung in diesem Band. Dazu gehört auch ein Artikel über Jan Vermeers Gemälde "Die Malkunst", das oft allegorisch verstanden wird: Die junge Frau soll Clio sein, die Muse der Geschichte, die Gegenstände um sie herum sollen die anderen Musen darstellen, und der Maler soll Vermeer selbst sein, der Mann, der aus so viel Intuition ein Werk entstehen lässt.

John Berger weist diese Deutung nicht zurück. Aber er setzt eine andere, bildkritische dagegen: Vermeer, sagt er, sei Zeitgenosse nicht nur Galileo Galileis gewesen, sondern auch Blaise Pascals, der die Welt zu einer Kugel erklärt hatte, deren Mittelpunkt überall und deren Peripherie nirgends sei. Antoni van Leeuwenhoek, der frühe Meister des Mikroskopierens, sei sein Freund gewesen. Was man auf diesem Bild also sehe, meint John Berger, sei eine Darstellung des Sichtbaren im Umgang mit dem Unsichtbaren. Die Frau betrachte - in Gestalt einer Maske, eines Buches, eines Lorbeerkranzes - die optischen Attribute der eigenen Erscheinung, die dann der Maler festhalte: "Vermeer war der erste Skeptiker unter den Malern, der erste, der den Augenschein des Sichtbaren in Frage stellte."

Gerade einmal sieben Seiten braucht John Berger für diesen Text, ungefähr so viele wie für seine Erläuterungen zu Piero della Francesca oder zu Mark Rothko. Dessen Kunst, schreibt er, sei die Kunst eines "empfindsamen Betrachters, der frei von den Konventionen des Verstehens ist". Dieser Satz könnte auch für John Berger selbst gelten.

John Berger: Woandershin. Farben, Kunst, Portraits. Herausgegeben und aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 152 Seiten, 20 Euro.

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