Im 17. Jahrhundert - vor, während und nach dem Dreißigjährigen Krieg - kulminierte das "konfessionelle Zeitalter". Es ist die Zeit der Frömmigkeitsbewegung des Pietismus, aber auch des großen Lieddichters Paul Gerhardt. Der evangelischen Theologie dieser Epoche, der sogenannten Altprotestantischen Orthodoxie, hatte man traditionell vor allem Rechthaberei und intellektuelle Borniertheit vorgeworfen. Der einflussreiche Kirchenhistoriker Johannes Wallmann, der am 2. Januar in Berlin am Coronavirus gestorben ist, spürte dort anderes auf: geistige Vielfalt, diskursive Offenheit gegenüber der Philosophie, religiöse Beweglichkeit und reformerische Kreativität.
Durch jahrzehntelange Forschungsarbeit hat Wallmann zu einer weit über sein eigenes Fachgebiet hinaus ausstrahlenden Neubewertung dieses Zeitalters beigetragen, auch in der Literatur-, Kunst-, Musik-, Philosophie- und allgemeinen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. In seiner Dissertation von 1961 wies er nach, dass die Spannungen innerhalb der Wittenberger Theologie, zwischen Martin Luther und Philipp Melanchthon, einen belebenden Faktor innerlutherischer Pluralität bildeten. Seine meisterhafte Habilitationsschrift von 1968 über Philipp Jakob Spener, den "Vater des Pietismus", rückte die wohl einflussreichste theologisch-kirchliche Persönlichkeit des 17. Jahrhunderts in vielfältige intellektuelle Zusammenhänge.
Er repräsentierte eine Kultur akademischer Geradlinigkeit und Streitbarkeit
Theologisch stark von Luther, seinem Lehrer Gerhard Ebeling, aber auch den liberalen Traditionen des deutschen Protestantismus geprägt, dürfte Wallmann der erste und lange wohl auch einzige Erforscher des Pietismus gewesen sein, der selber kein Pietist war. Deshalb ging er präziser, entdeckungsfreudiger und analytisch schärfer zu Werke als viele andere. Besonders eindrucksvoll war Wallmann immer dann, wenn er Beziehungen und Verbindungen aufspürte, wo gemeinhin Barrieren vermutet wurden: Zwischen den Philosophen Leibniz und Comenius, Friedrich dem Großen und anderen aufklärerischen Geistern und dem Pietismus als wirkungsreichster religiöser Bewegung seit der Reformation. Die zehnbändige Edition des Spener-Briefwechsels, die Wallmann maßgeblich betrieb, ist ein Meilenstein der Forschung. Dem Pietismus widmete er auch eine vielgelesene, in diverse Sprachen übersetzte Gesamtdarstellung. Als Verfasser einer "Kirchengeschichte Deutschlands", die bisher sieben Auflagen erreichte, prägte der leidenschaftliche Lehrer, der von 1971 bis zu seiner Emeritierung in Bochum, seither als Honorarprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin lehrte, Generationen von Studierenden.
Ein Herzensanliegen war Johannes Wallmann die Frage nach dem Umgang der evangelischen Christenheit mit Juden und Judentum. In eindringenden Studien wies er nach, dass die Judenfeindschaft des späten Martin Luther seit Pietismus und Aufklärung in den Hintergrund getreten, ja in Vergessenheit geraten war. Die völkische Bewegung und die Nationalsozialisten machten diese Verirrung erst wieder lebendig, so Wallmanns These. In einer seiner letzten Arbeiten zeichnete er das Schicksal protestantischer Christen jüdischer Herkunft im Lager Theresienstadt nach.
Der vielfach geehrte Wallmann repräsentierte eine Kultur akademischer Geradlinigkeit und Streitbarkeit. Dabei kämpfte er stets mit offenem Visier, insistierte auf Argumenten und Nachweisen, vermied den Konflikt auch mit Mächtigen in Kirche und Wissenschaft nicht, blieb sich treu und scheute sich nicht, selbst angreifbar zu erscheinen, wenn es ihm um die Wahrheit ging. Mit Johannes Wallmann verliert die Theologie in Deutschland einen ihrer Großen.