Kolumne "Nichts Neues":Diese Idee von Europa

Filmstill "Wenn die Gondeln Trauer tragen"_(c) Screenshot Johanna Adorján

Mal ganz lässig einen deutschen Bestseller auf dem venezianischen Nachttisch eines englischen Architekten: Europa, wie es sein sollte.

(Foto: Screenshot/Johanna Adorján)

Den Titel des Films "Wenn die Gondeln Trauer tragen" würde man vermissen, gäbe es ihn nicht.

Von Johanna Adorján

Nicolas Roegs "Wenn die Gondeln Trauer tragen" aus dem Jahr 1973 ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Erst einmal dürfte es der singuläre Fall sein, dass ein Film einen besseren deutschen Titel hat als im Original. Auf Englisch heißt er völlig unspektakulär "Don't look now", wie die Erzählung von Daphne du Maurier, auf der er basiert. Der deutsche Titel ist zwar fürchterlich melodramatisch, um nicht zu sagen triefend von Kitsch, aber irgendwie federt der Film das ab. Außerdem merkt man ihn sich für alle Zeiten. Und man würde ihn auch irgendwie auf der Welt vermissen, gäbe es ihn nicht.

Dann hat dieser Film sein ureigenes Genre begründet, das er auch ganz alleine bespielt: den im Architektenmilieu in Venedig spielenden Horrorfilm. Es gibt darin die erwachsenste Sexszene der Filmgeschichte, in der man nämlich nicht schon wieder ein aufgeregtes Paar beim ersten Mal sieht, sondern zwei Menschen, die das, was sie da tun, schon viele Jahre miteinander tun. Gespielt werden die beiden von Julie Christie und Donald Sutherland, deren jeweilige Lockenfrisuren stilistisch die einzige Konzession an die Siebzigerjahre sind. Ansonsten glänzt die Ausstattung durch Zeitlosigkeit, allen voran Julie Christies Garderobe, an der man sehen kann, dass gut sitzende Tweedjacketts, Röcke in A-Form und eng anliegende Stiefel nie aus der Mode kommen.

Der Film handelt im Kern von der Einsamkeit des Trauerns, diesem Vorgang, der sich nicht teilen lässt und selbst Elternpaare auseinandertreiben kann, weil jeder dabei so gewaltsam auf sich allein geworfen ist. Am allermeisten vielleicht liebe ich ihn aber für die Idee von Europa, die er nebenbei miterzählt. Einmal fängt die Kamera in ihrem Zimmer im Hotel Bauer auf dem Nachttisch das Buch ein, das er gerade liest: Rolf Hochhuths "Der Stellvertreter", in der Rororo-Ausgabe von 1971, in der stolz auf dem Titel vermerkt wurde: "Deutsche Gesamtauflage 400 Tausend". Dieser englische Architekt, der sich in Venedig auf Italienisch verständigen kann, liest demnach auf Deutsch. Ist das nicht schön, ist das nicht traurig, was ist aus dieser Idee von Europa geworden?

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