Woran liegt es, dass sich weder im Grimm noch im Duden noch sonst wo Wörter wie "Barnfödsel" (Kindbett), "ramps" (hochbeinig) oder "Gemühtsfinsternisß" (Schwermut) finden? Das liegt, zugespitzt gesagt, am Siebenjährigen Krieg. Diese Heimsuchung festigte nicht nur Preußens Machtstellung. Sie verhinderte indirekt auch, dass Johann Jakob Spreng sein großes Wörterbuch in Druck geben konnte, ein Werk, das an die 100 000 Einträge umfasst hätte und das dem Deutschen, wie die Welt spekulierte, auf lange Sicht einen Drall zum Schweizerischen hätte geben können.
Es war nicht der Krieg selbst, der die Edition hintertrieb, wohl aber die aus allgemeiner Existenzangst resultierende Vorsicht in wirtschaftlichen Dingen. Sprengs Plan war es ja, sein Glossarium auf der Subskriptionsbasis zu verwirklichen: Wer sich einschrieb, finanzierte mit seinem Vorschuss das Werk - ein bei ausgefalleneren Projekten auch heute noch übliches Geschäftsmodell. Wären genügend Interessenten zusammengekommen, hätte Spreng, wie er selbst schrieb, sofort "mit dem Werke unter die Presse eilen, und solche bis zu dessen Vollendung nicht ruhen lassen" wollen.
Die Subskriptionseinladung strich das geplante Werk als eines heraus, das "nicht nur den Sprachforschern, sondern überhaubt auch allerley Gelehrten, Standespersonen, Kanzleybeamten, und Liebhabern schöner Wissenschaften nützlich und gleichsam unentbährlich" werden könnte. Daraus wurde nichts, wie wir gesehen haben. Nun aber, 265 Jahre danach, wird diesem Personenkreis, sofern es ihn noch gibt, und darüber hinaus allen, die an nicht alltäglichen Sprachdingen ihre Freude haben, das Werk zugänglich: Am 1. Dezember bringt der Schwabe-Verlag Sprengs "Allgemeines deutsches Glossarium" in sieben Bänden heraus.
Spreng steckte sein Geld vor allem in Bücher - gut für die Nachwelt, betrüblich für die Familie
Das Traditionshaus Schwabe ist insofern die angemessene Heimat für Spreng, als es seinen Hauptsitz dort hat, wo auch Spreng wirkte: in Basel. Johann Jakob Spreng (1699 bis 1768) war Theologe und ein beeindruckend vielseitiger Philologe. Es gehörte zu den Beschwerlichkeiten seines Lebens, dass ihm die seinen Talenten, seiner Findigkeit und seinem Fleiß angemessene akademische Karriere verwehrt blieb. Zwar erhielt er eine außerordentliche Professur für deutsche Sprache und Poesie an der Universität Basel; sie war aber unbesoldet, weswegen er noch die Pfarrstelle am Waisenhaus übernahm. Wie Bettelbriefe an die Behörden bezeugen, ging es im Hause Spreng trotzdem knapp her, was auch nicht wesentlich besser wurde, nachdem er auf den ordentlichen Lehrstuhl für Griechisch berufen worden war.
Nach allem, was man über ihn weiß, war Spreng kein klug rechnender Hausvater und hat wohl auch eine Menge Geld in Bücher gesteckt. Für die darbende Familie war das betrüblich, für die Nachwelt hingegen ein Gewinn, denn auf dem Feld dessen, was Spreng immerfort las und exzerpierte, wuchs die gewaltige Ernte, die jetzt eingefahren wird. Das heißt, ein kleiner Teil der Ernte ist bereits in der Scheuer. Es hat sich nämlich gefügt, dass der Berliner Verlag "Das Kulturelle Gedächtnis" Wind von der Sache bekam.
Unter dem barock ausgreifenden Titel "Eine unerhörte Auswahl vergessener Wortschönheiten" brachte er Anfang des Jahres ein Florilegium heraus, den "Kleinen Spreng" sozusagen, den Heinrich Löffler, der Herausgeber des nun erscheinenden "Großen Spreng", als "Vortrab" bezeichnet, wozu man wissen muss, dass es der Vortrab ist, der bei der Basler Fasnacht mit freundlicher Bestimmtheit Platz macht für die Pfeifer- und Tambouren-Cliquen. Das Buch wurde freudig begrüßt, und wer wissen will, was der liebevoll gestaltete Band im Inneren bietet, sollte nicht "nasweyse Fragen tun", sondern hingehen und bestellen. Um hier gleich mit einem Stichwort zu locken: Spreng bietet für diese Art des Fragens das Verb "firkelen", das er aus Johann Geilers Predigtsammlung "Christenlich bilgerschafft zuom ewigen vatterland" gezogen hatte.
Gabriel Schaffter, dessen Masterarbeit "Verzettelte Wortwelten" Sprengs Tun und Streben umfassend darstellt, schildert den Mann im Vorwort zu der Berliner Blütenlese als einen Universalisten großen Zuschnitts. Spreng war über seine Profession hinaus auch Dichter, Übersetzer von Psalmen, Historiker und Festredenschreiber. Es verfasste ein Dialektwörterbuch des Basler Idioms und gründete, Gottscheds Vorbild vor Augen, 1742 in Basel eine "Deutsche Gesellschaft". Nach Art vieler, die es damals gut mit dem Deutschen meinten, sann er über Verbesserungen nach. Gegen Fremdwörter hatte er im Prinzip nichts, doch sollten sie nur "aus grosser Nohtdurfft" verwendet werden. Sprachpurismus war auch ihm nicht fremd, das belegen kauzige Verdeutschungen wie "Erzschule" (Akademie), "Zuchtsöhne" (Studenten) oder die schon bei Leibniz auftauchenden "Wisskünstler" (Mathematiker).
Bei allem Eifer, den Spreng aufs Suchen und Exzerpieren verwandte, ging es ihm nicht darum, den damals aktuellen, schon in anderen Lexika fassbaren Wortschatz abzubilden; Standardwörter wie "Heer", "Kopf" oder "Tisch" findet man bei ihm nicht. Löffler zufolge wollte seine Sammlung "Zeugnis geben von alten und neuen Bräuchen und Sitten, Religionen, Vorfahren, möglichst mit Belegen aus alten Texten und Dokumenten".
In seiner Intention ließ sich Spreng von dem eben erwähnten Leibniz leiten, der 1697 in seinen "Unvorgreiflichen Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache" zu einer Art Bilanz aufgerufen hatte. Seiner Beobachtung nach hätten es die Deutschen "bereits hoch gebracht in allem dem, so mit den fünf Sinnen zu begreifen ist und auch dem gemeinen Mann vorkommt"; ja, es gebe keine Sprache in der Welt, die bei handfesten Sujets "nachdrücklicher rede als die deutsche". Freilich hinke das Deutsche bei den abstrakteren Gegenständen hinterher, also bei Gemütsbewegungen, bei Tugenden und Lastern sowie bei den Erkenntnissen, "so die Liebhaber der Weisheit in ihrer Denkkunst (...) auf die Bahn bringen".
Das Erdenken neuer Wörter war ebenso wenig ausgeschlossen wie die Revitalisierung alter
Sprengs Glossarium wollte das leisten, was Leibniz den Sprachfreunden aufgegeben hatte: "Aufsuchung guter Wörter, die schon vorhanden, aber jetzt, weil sie wenig beobachtet werden, zu rechter Zeit nicht beifallen", und "Wiederbringung alter verlorener Worte, so von besonderer Güte." Das Erdenken neuer Wörter war ebenso wenig ausgeschlossen wie die Revitalisierung alter, und was die unanständigen, niederträchtigen Wörter angeht, so sollten sie zwar vermerkt, aber in sprachpflegerischer Fürsorge als solche markiert werden. Spreng nahm dafür, aus welchen Gründen auch immer, das Venussymbol (♀) zu Hilfe, beispielsweise bei dem Verb "abcontrefaÿen", das er als barbarisch und dem Französischen "nachgehudelt" wertete und durch "abmahlen, nachmahlen, abbilden" ersetzt sehen wollte.
Spreng hat natürlich keine Datei hinterlassen, wohl aber ein Manuskript - und was für eines! Für jedes Wort, das ihm unterkam, legte er einen Zettel an, auf dem er in altdeutscher Schreibschrift vermerkte, was er dazu wusste. Da er keiner war, der sich einen Zwang antat, konnten diese Zettel, die immer zehn Zentimeter breit waren, eine furchterregende Länge annehmen. Bei dem Wort "Triwerat" zum Beispiel begnügte er sich mit dem Hinweis "(Weibsn.) getreue Gattinn". Bei dem Lemma "Barrecht" hingegen erläuterte er zunächst, dass es sich dabei um das alte Recht handle, einen mutmaßlichen Mörder zum Opfer zu führen und darauf zu achten, ob die Wunde blute oder nicht, welch knapper Definition er eine ellenlange Geschichte aus Petermann Etterlins "eidsgenössischer Chronik" folgen ließ.
Da Spreng ja auf Drucklegung hoffte, hatte er zwei Drittel der rund 100 000 Zettel bereits in zwanzig alphabetisch geordnete Manuskriptbände montiert, und zwar so, dass genügend Raum für Zettelzuwachs blieb. Die restlichen Zettel ordnete er in 1754 kleine Papierumschläge ein. Über all dem starb Spreng. Sein Nachlass verblieb 100 Jahre bei den Erben und gelangte 1862 an die Basler Universitätsbibliothek, wo er weiterschlummerte. Jetzt tritt er, gut ausgeschlafen, den seinerzeit verpassten Weg in die Welt an.