Jochen Schmidts Roman "Phlox":Der Duft von gelagertem Obst

Jochen Schmidts Roman "Phlox": Die Quelle der Erinnerung: die Flammenblume, wissenschaftlich Phlox

Die Quelle der Erinnerung: die Flammenblume, wissenschaftlich Phlox

(Foto: imago-images.de/Panthermedia)

Reise in das Selbst: In Jochen Schmidts Roman "Phlox" segelt die Erzählstimme auf einem monotonen, magischen Erinnerungsstrom.

Von Harald Eggebrecht

Erinnerungen haben in ihren besten und ehrlichsten Momenten etwas von Expeditionen. Etwas Archäologisches haftet ihnen an, denn von Lebensalter zu Lebensalter wechselt der Umgang mit dem, was das Gedächtnis bereithält. Es muss immer wieder neu gesichtet und geordnet werden je nach neuer Lebenswendung und -perspektive. Ans Ende gelangt man da nie, denn gerade in Erinnerungsarbeit gilt auch das Prinzip Plötzlichkeit: Etwas bis dahin Unbeachtetes taucht plötzlich aus dem Konvolut so frisch und neu auf wie nie zuvor gesehen und verwandelt damit den ganzen bisherigen scheinbar so sicher archivierten Erinnerungszusammenhang.

Der Schriftsteller Jochen Schmidt, Jahrgang 1970, hat seinen Erinnerungsband "Phlox" genannt, er erzählt von einer Fahrt in ein Dorf im Oderbruch namens Schmogrow. Zugleich ist es eine Erinnerungsreise in den Ort als Kindheitsparadies, als schier unendliches Labyrinth sich gegenseitig überwachsender Geschichten. Was zuerst idyllisch erscheint, sich als Traumreich alter Sitten und Gebräuche, bäuerlicher Lebensweisen und -weisheiten erzählerisch reich instrumentiert entfaltet im gewissermaßen atemlos schwadronierenden Strom des Schmidt'schen Memorierens und Beschwörens von Dorf und Land, von Leuten und Nachbarn, von geliebten Menschen und entfernten Bekannten, von Flüchtlingen und Hängengebliebenen, färbt sich dunkler bis ins Schwarze und Böse hinein.

Sobald Schmidt, ohne zu zögern, auch die Kriegs- und Fluchterlebnisse aufgräbt, die Überlebensumstände der Schmogrower und derer, die dort landeten, tauchen die Wirklichkeiten von Naziherrschaft und russischen Besatzungsgräueln auf, ohne dass je falsch moralisiert wird. Schmidt bleibt seinem Prinzip des ununterbrochenen Erzählens treu, das er nicht durch falsch tiefsinnige Grübeleien oder sich abhebende Reflektionen stört oder verunklart.

Jochen Schmidts Roman "Phlox": Jochen Schmidt: Phlox. Roman. Verlag C.H. Beck, München 2022. 479 Seiten, 25 Euro.

Jochen Schmidt: Phlox. Roman. Verlag C.H. Beck, München 2022. 479 Seiten, 25 Euro.

(Foto: C.H. Beck)

Dieses Nebeneinander von Erzählen und Erzähltem, von Erinnerung in die unterschiedlichsten Schichten hinein ist fast unmerklich, doch wirksam inszeniert. An keiner Stelle überhebt sich der Autor über die gemachten Erfahrungen, er benutzt sie nie zum Besserwissen oder gar zum Sich-distanzieren. Schmidt bleibt ganz nah dran, ob er die Gärten und alten Obstbäume schildert, Erntevorgänge aus alter Zeit memoriert, das Haus und seine Räumlichkeiten beschreibt oder die Dialektfärbungen, wie sie in Schmogrow aufklingen, wenn die Alten aus ihren Leben erzählen, nachbildet.

So geraten auch die Lesenden tief ins Schmogrow-Universum, weil es nirgendwo Ausstiege zu geben scheint: immer mittendrin und umweht von der andauernden Suada des Autors auf seiner Forschungstour. Das kann ermüden, auch wird die Fülle der Details nicht so plastisch, dass sie im eigenen Gedächtnis haften bliebe. Ein ungeahnter Effekt aber stellt sich während des Lesens in Jochen Schmidts reichhaltigem Schmogrower Allerlei ein: Man ertappt sich en passant dabei, in die eigene Erinnerungswelt abzudriften.

Die Schmidt-Erfahrungen im Oderbruch verleiten dazu, Parallelen zu ziehen, lassen Gesichter und Stimmen der eigenen Vergangenheit aufleuchten. Man geht ins Haus von Frau Fiddeke und denkt an die röhrenden Hirschbilder in irgendwelchen Patentantenwohnungen. Es riecht nach gelagertem Obst, und die Erzählung einer Pflaumenmusernte taucht auf, von der einst Onkel W. erzählt hat.

Gut möglich, dass Schmidt mit der gleichsam ungefilterten Dichte seines Herbeierzählens auch auf dergleichen Gedächtnisanimation bei seinen Lesern aus sein könnte. Jedenfalls blüht der Phlox in Jochen Schmidts Dorf Schmogrow so intensiv, dass die Stauden in den eigenen Vorgärten zu duften beginnen. Wenn man sich richtig erinnert.

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