Süddeutsche Zeitung

Joan Jonas im Haus der Kunst:Münchens leuchtender Wolf

Die Retrospektive der New Yorker Legende der Performance- und Videokunst, Joan Jonas, zeigt, wie ernst es dem Haus der Kunst mit der internationalen Flughöhe ist.

Von Kito Nedo

Am Wochenende ist am Südrand des Englischen Gartens in München ein Wolf aufgetaucht. Aber bitte keine Panik. Das Tier ist nur elektrisch. Seine Schöpferin ist die US-amerikanische Performance- und Medienkünstlerin Joan Jonas, geboren 1936 in New York. "Wolf Lights" heißt das Video-Werk, das in diesem Herbst und Winter Tag und Nacht über einen großen Videoscreen im Säulengang am Haus der Kunst flimmert.

Produziert zwischen 2004 und 2005, ist es Teil der soeben eröffneten, großen Joan-Jonas- Retrospektive im Inneren der Kunstinstitution. Es deutet auf ein Werk, welches zu gleichen Teilen in der Moderne, in der Science-Fiction und in den alten Mythen wurzelt. Der knapp dreiminütige Videoloop zeigt eine Tänzerin mit Wolfsmaske in animalischen Posen vor den grellen Neonlichtern von Las Vegas. Ein Hauch von New York weht nun mitten in München.

Noch im April tanzte das Video-Wesen einen Monat lang immer um Mitternacht über die Videoscreens am Times Square in Manhattan. Und 2024 wird Joan Jonas für ihr Lebenswerk im Museum of Modern Art mit einer umfassenden Retrospektive geehrt. Die 85-jährige Künstlerin, die zur Eröffnung am Freitag persönlich nach München kam, ist also ein international verehrtes Urgestein der New Yorker Performance- und Videoszene, eine lebende Legende. Wenn die mehrmalige Documenta-Teilnehmerin nicht auf Reisen ist, lebt und arbeitet sie in ihrem Künstlerloft in Soho, dem alten, heute freilich gründlich gentrifizierten Künstlerviertel von Manhattan. In Kanada unterhält sie außerdem ein zweites Atelier.

Früh schon beschäftigte sich die Künstlerin auf poetische Weise mit dem Klimawandel

Bevor Jonas Künstlerin wurde, studierte sie Mitte der Fünfziger Kunstgeschichte, später dann auch Bildhauerei und Malerei. Ende der Sechziger tauchte sie schließlich in die experimentell gesinnten Avantgarde-Kreise von New York ein und wurde zu einer maßgeblichen Akteurin der Szene. Jonas begann mit Performances, Film, Videokunst, Sound und Installationen zu arbeiten. Dabei ist sie bis heute geblieben.

Eine der frühesten Arbeiten, die nun in München zu sehen sind, ist der 16-Milimeter-Streifen "Wind" von 1968. Der Stummfilm zeigt eine Gruppe von maskierten Performern, die sich in einer eigentümlichen versteiften Choreografie über einen schneebedeckten Strand von Long Island durch den peitschenden Wind bewegt und einen stummen Tanz mit der Natur vollführt. Schwer zu sagen, ob es das Schneetreiben war oder die Körnigkeit des Filmmaterials, die den Schwarzweißbildern ihren eigentümlichen Schmelz in den Graustufen gab.

Eine weitere frühe Filmarbeit mit dem Titel "Songdelay" geht auf eine Performance auf einer Baubrache in der Lower West Side von Manhattan und im Hafen des Hudson River zurück. Unter den Performern, die unter anderem in einem bestimmten Rhythmus Holzstücke über ihren Köpfen aneinanderschlagen oder sich wie menschliche Zeichengeräte staksend durch die urbane Wüstenlandschaft bewegen, befand sich damals auch der Architekt und Konzeptkünstler Gordon Matta-Clark. Jonas arbeitete damals mit einem Teleobjektiv, was schöne perspektivische Effekte hat: In einem Moment des Films gleitet scheinbar direkt hinter einem Performer ein großes Frachtschiff lautlos durch das Bild.

Statt einer linearen Abfolge entlang einer Werkchronik haben sich die drei Kuratoren der Ausstellung, Andrea Lissoni, Julienne Lorz und Elena Setzer, dafür entschieden, eine Ausstellung zu konzipieren, die eher einer Inselgruppe ähnelt. Auf diese Weise wird mit der insgesamt 32 Werken umfassenden Schau den vielen, mehr oder weniger sichtbaren Verbindungen zwischen den einzelnen Werkgruppen Rechnung getragen. Denn Jonas selbst griff immer wieder bestimmte Themen oder Motive auf und entwickelte sie organisch weiter. Früh schon beschäftigte sich die Künstlerin auf poetische Weise mit dem Klimawandel, etwa in der Videoinstallation "Reanimation", die nun an zentraler Stelle im Haus der Kunst gezeigt wird. Eine frühere Version der Arbeit war 2012 auf der Documenta 13 in Kassel zu sehen.

Die Geschichte der Ausstellung ist abenteuerlich, nur gegen viele Widerstände findet sie nun doch in München statt

Inspiriert vom 1968 zunächst auf Isländisch erschienenen Roman "Am Gletscher" des Schriftstellers Halldór Laxness, schuf Jonas eine Installation mit vier Videoflächen, die unter anderem eine Fahrt in einen isländischen Gletschertunnel zeigen. Das Motiv des verschwindenden Eises wird in einer anderen Sequenz in einen zeichnerischen Akt übertragen. In Nahaufnahme sind zwei Hände zu sehen, die mit Tusche und Eiswürfel auf einem Bogen Papier ein abstraktes Bild produzieren. Es ist absolut faszinierend, den Händen der Künstlerin auch anderen Stellen in der Schau beim Zeichnen zuzusehen. Ob Fische, Vögel, Bienen oder Hunde: Jonas' Tierzeichnungen ziehen sich durch die ganze Schau. In einem Interview im Katalog erklärt sie, warum: "Die Beziehung zwischen Tieren und Menschen ist sehr geheimnisvoll, und ich denke, sie ist sehr wichtig, besonders in der heutigen Welt, auf dem Planeten, auf dem wir leben. Da Tiere immer seltener werden, werden sie immer wichtiger."

Am Impressum des Katalogs zur Ausstellung lässt sich indirekt die abenteuerliche Geschichte dieser Ausstellung ablesen, die gegen viele Widerstände nun doch in München stattfindet. Das Buch wurde bereits im Januar 2018 gedruckt. Das war noch vor Covid und Ukraine-Krieg und scheint eine Ewigkeit her zu sein. Denn ursprünglich war die Ausstellung noch von Okwui Enwezor (1963 -2019) geplant worden und war als Kooperationsprojekt mit der Londoner Tate Modern sowie der Fundação de Serralves in Porto fest vereinbart.

Dann kamen die kleinen Katastrophen des Jahres 2018, die das international renommierte Haus für zeitgenössische Kunst fast in den Abgrund gerissen hätten. Enwezor verlor in einem unwürdigen politischen Manöver 2018 sein Amt. Der visionäre Kurator starb wenige Monate später in München. Der Kaufmännische Direktor übernahm interimistisch die Gesamtleitung, legte abrupt den Rückwärtsgang ein und sagte die Joan-Jonas-Schau ab. Stattdessen wurden die Maler Markus Lüpertz und Jörg Immendorf in das Programm gehievt. Damit setzte man auf gut bekannte, aber weniger avancierte Positionen. Seit der Berufung des italienischen Kurators Andrea Lissoni im April 2020 scheint das Haus nun wieder auf Kurs zu sein und macht durch hochkarätige Ausstellungen von sich reden.

Diese Schau ist auch deswegen programmatisch, weil Lissoni die Institution mit kleinen Schritten zu mehr Nachhaltigkeit bewegen will. Dazu gehört etwa das Wieder- und Weiterverwenden einzelner Ausstellungselemente aus vorherigen Ausstellungen. Deshalb ist der Fußboden aus Holzbrettern, der ursprünglich für die japanische Künstlerin Fujiko Nakaya im Frühsommer in der großen Ausstellungshalle eingelegt wurde, immer noch da. Mit 120 000 Besuchern war Nakayas Installation "Nebel Leben" eine der erfolgreichsten Ausstellungen in der jüngeren Geschichte des Hauses der Kunst. Zu einer nachhaltigeren Institutionspolitik gehören aber auch administrative Entscheidungen, wie etwa längere Ausstellungslaufzeiten. Oder dass für die aktuelle Ausstellung - bis auf eine Ausnahme - keine Kunsttransporte nötig waren und keine Kunstversicherung bezahlt wurde.

Bei seinem Antritt hatte Lissoni erklärt, er wolle das schwerfällige Haus "zum Fliegen bringen, wie ein Raumschiff". Die Joan-Jonas-Retrospektive zeigt, wie ernst es ihm mit der internationalen Flughöhe ist.

Joan Jonas: Bis 26. Februar, Haus der Kunst, Prinzregentenstr. 1, hausderkunst.de

Katalog: Hirmer Verlag, 29,90 Euro

Anm. d. Red.: In einer früheren Version des Artikel hieß es, die Installation "Nebel Leben" sei die erfolgreichste Ausstellung in der Geschichte des Hauses der Kunst gewesen. Das stimmt so nicht. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

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