Joan Didion wird 80:Die kalifornische Kassandra

Joan Didion

Neurotisch und brillant: Joan Didion 2007 in ihrem Apartment in New York.

(Foto: AP)

Sie schrieb Kriegsreportagen und trank Cocktails mit den Stars. Dann trat das Unheil in ihr eigenes Leben und sie sezierte es so gnadenlos wie niemand sonst. Joan Didion, die große Journalistin und Schriftstellerin, wird 80 Jahre alt.

Von Willi Winkler

Jeder Schreiber, jede Schreiberin wollte sein wie sie. Eine Reportage aus El Salvador im Bürgerkrieg, ein Drehbuch für Robert De Niro und Robert Duvall, zu Besuch bei den Doors oder bei John Wayne, zwischendurch, warum nicht, ein Roman. Heute hier, morgen dort, und immer in diamantharter Prosa, jede Silbe gehämmert für die Ewigkeit, wetterbeständig wie sonst nur die Zehn Gebote.

Schreiben vom frühen Morgen an mit der Unerbittlichkeit Flauberts, aber zum Cocktail mit der gelben 69er Corvette Sting Ray aus den Hollywood Hills hinunter nach Malibu brettern, wo die anderen, die Reichen, die Berühmten, die Schönen bereits warten, beste Freunde alle selbstverständlich, aber auch nur Material für die nächste Reportage, für eine Kolumne, für einen Roman. "Ich schreibe, und das bin ich."

Entwickelte früh Schriftsteller-Neurosen

Joan Didion kam in Sacramento zur Welt, der ehemaligen Goldgräberstadt. Als Soldat wurde ihr Vater ständig versetzt, die Familie musste mit. Das Kind entwickelte früh die für Schriftsteller vorgeschriebenen Neurosen, wurde licht- und geräuschempfindlich, träumte Selbstmordgeschichten und entwickelte bei jeder Gelegenheit Migräne. Manchmal genügte es, wenn das Muster auf den Vorhängen nicht zum Nachmittagslicht passte.

In der New Yorker Redaktion der Vogue lernte sie Möbel, Kleider und Models bedichten, aber das in einer Bildunterschriftsknappheit, die selbst Hemingway den Atem geraubt hätte. Sie zog mit einem Mann zusammen, was keine gute Idee war, weil der auch schrieb, aber nicht so gut wie sie. Rücksichtslos tratschte sie an die Leser ihrer Kolumne weiter, wie sie die Koffer packte, um fortzugehen, wie sie weinte, und wie er ihr dabei ungerührt zusah.

Ihr Thema war immer auch sie selbst

Das Ich, im deutschen Journalismus so gut wie tabu, ist im religiös dauererweckten Amerika keine ungewöhnliche Verkehrsform. Melville lässt im ersten Satz seines "Moby Dick" den Erzähler auftreten, Saul Bellows "Abenteuer des Auge March" beginnen mit einer selbstbewussten Vorstellung: "Ich bin Amerikaner." Joan Didion hat sich von Anfang an nicht bloß zum Thema, sondern zum Ausbeutungsgegenstand ihrer Geschichten gemacht.

Dabei ist sie die schlechteste Reporterin, die sich ein Chefredakteur nur albträumen kann: "Ich kann schlecht interviewen. Ich meide Situationen, in denen ich mit dem Pressevertreter von jemandem reden muss. Ich telefoniere nicht gern (. . .) Mein einziger Vorteil als Reporterin ist, dass ich von so kleiner Gestalt bin, von so unaufdringlichem Wesen und in geradezu neurotischer Weise um Worte verlegen, dass die Leute eher vergessen, wie sehr meine Gegenwart ihren persönlichen Interessen zuwiderläuft."

Das ist alles ein bisschen kokett, aber es gibt noch immer Zeitschriften in Amerika, die umfangreiche Geschichten drucken, Reportagen von Joan Didion, in denen auch solche Skrupel beim Recherchieren mitgeschrieben werden können, in denen die individuelle Erfahrung abgeglichen wird mit soziologischen, psychologischen Erkenntnissen, in denen die politischen Verhältnisse zur Sprache kommen.

Verkünderin von Unheil und Untergang

Von Haus war sie den Republikanern zugeneigt und entwickelte sich erst allmählich nach links, wurde teilnehmende Beobachterin der Gegenkultur, die mit Drogen begann, mit Blumen feierte und in der Gewalt endete. Als die Nachricht von den Morden kommt, die die Manson-Kommune in Los Angeles beging, erlebt sie keinen Schock, sondern ist überrascht, weil niemand davon überrascht wird. (Joan Didion wird einem der Mörder-Mädchen ein Kleid kaufen, weil sie mit Linda Kasabian das Buch schreiben will.) Sie kann es mit ihrem Leben, mit allem, was sie sieht, was ihr zustößt, bezeugen: Das Paradies Kalifornien, ihre Heimat, ihr Lebensgrund, die Hoffnung noch aller Glückssucher, ist dem Untergang geweiht.

So wurde Joan Didion ein angel of doom, Verkünderin des Unheils, das im drohen-den Untergang der imperialen USA besteht. In ihrer Reportage "Überfall im Central Park" (der Originaltitel "New York. Sentimental Journeys" trifft die mit Ironie camouflierte Unerbittlichkeit viel besser) glaubt sie zwar auch die Geschichte vom Überfall im Central Park, aber sie decouvriert das Muster der Berichterstattung, das reflexhaft einsetzt: hier die weiße Investmentbankerin (Opfer), da die Schwarzen und Latinos (Täter). Erst nach mehr als einem Jahrzehnt kam heraus, dass die zu zehn bis vierzehn Jahren verurteilten angeblichen Täter die Frau gar nicht vergewaltigt hatten. Wenn solche Bücher gelesen, womöglich sogar beherzigt würden, müsste Bild mit seiner widerwärtigen Berichterstattung zum Beispiel über den Tod einer türkischen Studentin endlich einpacken.

Erstleser und Cocktailbringer

Sie hat Kalifornien irgendwann verlassen und ist nach New York gezogen, mit ihrem Mann John Gregory Dunne, Autor wie sie. Gemeinsam schrieben sie das Drehbuch für Jerry Schatzbergs "Panik im Needle Park", sogar für den lächerlichen Barbra-Streisand-Film "A Star Is Born". Es muss eine beispiellos ideale Ehe gewesen, zwei Heimarbeiter im gleichen Feld, aber nicht das hiesige Ingeborg-Bachmann-Max-Frisch-Zerfleischungsmodell, sondern offenbar eine Verbindung ohne Konkurrenzgefühle, der eine des anderen Erstleser, Redakteur, Betreuer, Cocktailbringer, zusammen Brüderchen und Schwesterchen gegen den Rest der Welt - und auch noch erfolgreich.

"Statt uns scheiden zu lassen, sind wir zusammen in Urlaub gefahren", schrieb sie einmal. Sie adoptierten ein Kind und waren die glückliche amerikanische Familie. Bis das Unheil kam. Am Tag vor Silvester 2003, der erste Cocktail ist bereits getrunken, sie wirtschaftet in der Küche beim Salat, erleidet ihr Mann einen Herzinfarkt. Innerhalb von wenigen Minuten ist er tot. Natürlich musste sie auch darüber so schreiben, wie sie ist: gnadenlos. Daraus wurde ein Selbstentblößungsbuch wie selbst Joan Didion noch keines geschrieben hatte: "Das Jahr magischen Denkens". Kein noch so peinliches Detail wird ausgelassen, der Blutfleck am Boden, der Drang, den Nachrufschreiber bei der New York Times anzurufen und auch den in Los Angeles. Die Tochter liegt im Krankenhaus, mit einem Schlag ist sie allein, allein mit ihrem Schmerz und diesem Blutfleck.

An diesem Freitag wird der kalifornische Engel Joan Didion achtzig Jahre alt.

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