Joachim Kaiser:Leben zwischen Büchern und Noten

Joachim Kaiser

Ein Kritiker, der sich mit Leichtigkeit zwischen Oper, klassischer Musik, Theater und Literatur bewegt: Joachim Kaiser.

(Foto: Regina Schmeken)

Bei einer Rede in der Musikhochschule München erzählt die Tochter des Journalisten und Kritikers Joachim Kaiser von einer Kindheit zwischen Literatur und Musik. Und wie schlimm es ist, wenn der Vater krank wird.

Erinnerungen von Henriette Kaiser

Am vergangenen Dienstag wurde in der Musikhochschule München die Übergabe des Nachlasses des am 11. Mai 2017 verstorbenen Feuilletonisten und Kritikers der Süddeutschen Zeitung Joachim Kaiser gefeiert, der am 18. Dezember 90 Jahre alt geworden wäre. Seine Kinder, die Autorin und Filmemacherin Henriette und der Sportjournalist Philipp Kaiser, hatten seine Bücher, Platten, Noten und seinen Flügel der Hochschule geschenkt.

An diesem Abend gab es Lesungen mit Texten von Joachim Kaiser. Der Pianist Markus Bellheim spielte Lieblingsstücke Kaisers. Seine Tochter Henriette erzählte die Geschichte der Bibliothek und des Flügels von ihrer frühen Kindheit bis zu den späten Jahren seiner Krankheit. Diesen Text drucken wir an dieser Stelle.

Die Erinnerungen an meinen Vater schwimmen in mir herum. Aus den Fluten ragt immer wieder seine Bibliothek hervor. Diese unüberschaubare Menge von Büchern, Platten, Klavierauszügen.

Bereits in den frühen Sechzigerjahren sprengte sie den Rahmen einer Zweizimmerwohnung. Krabbeln und Gehen lernte ich zwischen hochgestapelten Bücherbergen, die regelmäßig über mich hereinbrachen, wenn ich mich an ihnen festhielt.

Kurz darauf zogen wir in ein Reihenhaus. Besonders im Zimmer zur Straße hinaus zeigte sich, dass bei uns alles ein wenig anders war als bei den Nachbarn. Bei ihnen war dieses Zimmer ein heller, weitläufiger Raum. Bei uns eine düstere, vollgestopfte Klause. Eigentlich das Schlafzimmer meines Vaters. Das Bett war aber kaum ausfindig zu machen, sondern hinter und unter Büchern vergraben. Dazu standen zwischen den Büchern ein braunes Klavier und ein ebenfalls brauner Schreibtisch mit einer Schreibmaschine obendrauf. Der Schreibtisch war verlockend: abgenagte Bleistifte, Kugelschreiber, Hornbrillen, riesige Armbanduhren und eine Schreckschusspistole, mit der mein Vater uns retten wollte, falls ein Verbrecher das Haus betreten würde. Zum Glück musste die Probe nie aufs Exempel gestellt werden.

Der Umzug ist ein Spektakel

Dafür konnte man von einem Tag auf den anderen das Wohnzimmer kaum noch betreten, weil da plötzlich ein schwarzer Flügel eingeklemmt stand. Niemals habe ich meinen Vater glücklicher gesehen, als wenn er auf ihm herumdonnerte. Wir würden bald umziehen, hieß es. Nur eine Straße weiter, in ein großes Haus. Deshalb der Flügel. In weiser Voraussicht ahnte meine Mutter, dass ab Baubeginn über Jahre oder Jahrzehnte hinweg kein Geld mehr für den Lebenstraum meines Vaters übrig sein würde. Also sollte er ihn sich davor erfüllen.

In den frühen Siebzigerjahren fand der Umzug statt. Ein Spektakel. Die ganze Straße war mit Bücherkartons zugestellt, und als der Flügel aus dem schmalen Haus bugsiert wurde, hielt die gesamte Nachbarschaft den Atem an. Nur ein kleines Mädchen fragte seine Mutter: "Gibt es jetzt nachts keine Papagenomusik mehr?"

Die Musik, die Bücher, meine Eltern, mein Bruder und ich zogen in den strahlendweißen Betonbau. Nun konnte sich die Bibliothek mit dem Flügel im Zentrum entfalten und wir hatten trotzdem Freiraum. Voller Stolz führte mich mein Vater durch die Neuaufteilung. Es war nicht einfach, sich zu merken, welche Autoren er im Hauptarbeitszimmer alphabetisch angeordnet hatte und welche Autoren sich das Vorzimmer teilten. Dazu gab es noch Wandabschnitte für die Dramatiker, die Philosophen, für dies und das und für die zeitgenössischen Autoren. Die Schallplattenaufteilung war einfacher. Die Musik vor Bach war gesondert untergebracht, an der Hauptwand das Alphabet, die Musik ab dem 20. Jahrhundert, die wichtigen Interpreten.

Mein Bruder und ich hatten freien Zugriff auf alles, mit der flehentlichen Bitte, alles wieder exakt da zurückzustellen, wo wir es herausgezogen hatten. Das wollten wir gerne beherzigen. Aber manchmal missglückte es. So mürrisch mein Vater bei der Suche nach den Gegenständen dann war, so begeistert war er über das Interesse. Zärtlich führte er uns in alles ein, was er wusste, und war leidenschaftlich darauf bedacht, dass wir ihm nicht wie die Lemminge gehorchten, sondern unsere eigenen Vorlieben und Qualitätskriterien entwickelten.

Ein Schlaganfall ändert alles

Es machte großes Vergnügen, diese Bibliothek durchzustöbern. Zielgerichtet, oder sich mit geschlossenen Augen dem Zufall überlassend, mit Entdeckungen, die sich tief in die Seele eingeprägt haben. Aber die Fülle war auch bedrohlich und ein dringender Appell, sich davon abzugrenzen.

Schon kurze Zeit nach dem Umzug musste das Wohnzimmer umgestülpt werden. Die Schallplattenwand reichte nicht mehr aus. Eine längere Wand wurde umgerüstet. Dazu wurde eine Tür verschlossen und ein Regal davor installiert, in dem sich fortan die Musikliteratur stapelte. Dazu weitere Regale für die Klavierauszüge und Partituren. Dazu eine gigantische Anlage mit noch größeren Boxen, die nicht nur mein Vater lautstark nutzte, sondern auch ich für meine Partys.

Ein Mal pro Monat rauschte die Laune meines Vaters weit nach unten. Er musste aufräumen. Er musste die Arbeitsstapel zurück in die Regale stecken, den Flügel von den Postbergen befreien, die angelieferten Neuerscheinungen einsortieren und, besonders quälend, eine große Kiste aussortieren. Derart hielt sich das normale Leben im Haus und das Leben mit der Bibliothek die Waage.

Aber zu Beginn der Achtzigerjahre kamen die CDs. Zuerst vereinzelt, in einer absurd schlechten Qualität. Mein Vater und ich gaben diesem Medium keine Chance. Aber dann verbesserte sich die digitale Technik und der Siegeszug der CD begann.

Meine Mutter wurde nicht müde, sich neue Ecken für Regale einfallen zu lassen. Um Möbel herum, unter den Fenstern, über den Türstöcken, hinter dem Heiztank. Kein Millimeter blieb von CDs verschont. Ihr Ordnungssystem aber blieb das Geheimnis meines Vaters. Wenn man etwas brauchte, musste man ihn fragen. Dann sauste er los und kam Minuten später mit dem Suchobjekt zurück. Manchmal war die Hülle leer. Die Laune sank wieder in den Keller. Nicht wir haben geschlampt, er selber war der Übeltäter.

Es waren die Jahre, in denen mein Bruder und ich auszogen, unsere Zimmer schnell in Beschlag genommen wurden, und die Wanderschaft der ständig wuchernden Bibliothek begann. Plötzlich war der gesamte Goethe weg. Nicht, dass man ihn gebraucht hätte, aber sein Fehlen fiel schon auf. Er war dann auch nicht weg, er war mit Shakespeare zusammen ins Schlafzimmer ausquartiert worden. Dafür teilte sich jetzt Richard Wagner eine Wand mit Bertolt Brecht. Die Philosophen mussten da rüber, die Sekundärliteratur hier hin. Adorno und Thomas Mann hingegen verteilten sich überall. Jeder Besuch zeigte einen neuen Erfindungsreichtum meiner Eltern, wo man noch mehr verstauen könnte. Schüttelte man über das Chaos den Kopf, konstatierte mein Vater: "Ich fühle mich zwischen meinen vielen Büchern und Noten wohl."

Neue Bücherwände

Als vor über elf Jahren meine Mutter starb, musste ich ihre Bibliothek auflösen. Trotz vieler Erstausgaben der französischen Existenzialisten zeigte keine Institution Interesse. Endlich, nach vielen Wochen der Suche erbarmte sich ein Gymnasium. Die Verwahrung der Bibliothek meines Vaters dräute sich am Horizont zu einem Ungeheuer auf, aber noch ließ ich mich nicht entmutigen.

Das Schiller-Archiv in Marbach übernahm die Briefwechsel und Manuskripte meines Vaters, die er auf allen freien und nicht freien Flächen kreuz und quer hochgeschichtet hatte. Da das Zimmer meiner Mutter nun frei war, ergaben sich neue Wände für Bücher. Derart wurden Regale für die CDs frei. Für den Rest besorgte ich Raumteiler.

Empfand mein Vater dieses Umräumen anfangs als überflüssig und lästig, schien er bald mit der Neuordnung gut zurechtzukommen. Er kletterte auf Stühle, um sich aus den oberen Regalbrettern zu bedienen, verteilte überall seine Buch,- CD,- und Notenstapel, las und las, radelte in Konzerte, hackte Artikel in die Schreibmaschine. Sein Lebensmotto war auch mit über achtzig zutreffender denn je: "Ich kann gar nicht leben. Ich kann nur arbeiten."

Dann kam Anfang 2011 der erste große Schlaganfall mit furchtbaren Folgen. Mein Vater konnte nicht mehr schreiben. Er erklärte sogar einmal, was in seinem Kopf geschehe: "Ich habe die Gedanken in mir, aber ich kann sie nicht mehr äußern. Weder mündlich noch schriftlich."

Er las viel. Freilich war nicht zu eruieren, was das Gelesene in ihm bewirkte. Fragte man ihn nach dem Inhalt, wich er elegant aus: "Das ist zu umfassend, um es zu erklären. - Stör mich nicht, ich bin beim Arbeiten." Wenn er beim Lesen einschlief und später erwachte, entdeckte er das Buch in seiner Hand wieder, betrachtete es interessiert von allen Seiten, um es von vorne zu beginnen. Beklemmende Erkenntnis: Ein Buch würde bis ans Ende seiner Tage ausreichen. Das war natürlich ausgeschlossen.

Um eine greifbare Auswahl zu haben, führte ich meinen Vater in seine Arbeitsräume. Der orientierungslose Blick meines Vaters ließ mich verstummen. Hilfe suchend stand er zwischen seinem vergangenen Leben. Ich führte ihn hoch, setzte ihn in seinen Sessel und reichte ihm ein Buch, das da lag.

Abschottung als Selbstschutz

Von diesem Moment an waren die Bücher eine leblose, verstaubte Masse, ein unbarmherziges Paradoxon zu dem Jetzt-Zustand.

Ich suchte alleine eine Auswahl zusammen. Keine langen Romane, in denen er sich nach ein paar Seiten verlor, keine komplizierten Abhandlungen. Sondern Briefwechsel, Gesprächsbücher, Biografien, wenn sie in abwechslungsreichen, kurzen Kapiteln geschrieben worden waren. Gedichtbände, ein Liederbuch. Und "Don Ottos Klassikkabinett" von Mauricio Botero.

Ich legte ihm Noten auf den Flügel, durchforstete die CDs, um seine Lieblingsaufnahmen parat zu haben. Aber nur selten hörten wir uns etwas an. Mein Vater fand stets höfliche Ausreden dagegen. Noch seltener setzte er sich an den Flügel. Nach einem Konzertbesuch gestand er, dass er der komplexen Musik einfach nicht mehr folgen könne. Da begriff ich, dass seine Abschottungsversuche gegenüber seinem früheren Lebenselixier einem Selbstschutz entsprangen, um nicht noch tiefere Demütigungen zu erfahren, als diese Krankheit ihm ohnehin abverlangte.

Als Wesen aber lebte die Musik in ihm weiter, in Musikmetaphern fand er Stütze, Freude, Trost. Immer wieder dirigierte er auf seinem Sessel stumm Musik, die nur er in sich hören konnte, die er in sich fühlte oder komponierte: "Hat dir mein H-Moll- Werk für die weltbesten Musiker auch so gefallen?"

Die Bücher staubten weiter vor sich herum, die Demenzkrankheit schritt voran. Die Schwierigkeiten mit den Büchern meiner Mutter im Genick, suchte ich präventiv nach einer Lösung. Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach gab es keinen Platz. In der Monacensia und anderen Archiven auch nicht. Ich suchte und suchte, dann stieß ich auf die Hochschule für Musik und Theater. Ich schrieb einen Brief. Wenige Tage später klingelte das Telefon.

Der Kanzler der Hochschule, Alexander Krause, meldete sich, sie würden alles übernehmen. Sie würden alles katalogisieren und als Sammlung präsentieren. Ich solle entscheiden, was ich ihr wann überlassen wolle. Noch wollte ich gar nichts abgeben. Die Abgabe plante ich für den unbekannten Tag X.

Ein Bad im Wohnzimmer

Aber dann konnte mein Vater die Treppe nur noch unter großen Gefahren bewältigen. Diese Treppe, die für Treppenlifter viel zu schmal war, die aber sein Schlafzimmer und Bad im ersten Stock mit dem Erdgeschoss und der Türe ins Freie verband. Mein Bruder und ich überlegten, ein Heim oder eine barrierefreie Wohnung zu suchen. Die Idee, mitten im Wohnzimmer ein Bad einzubauen, verwehrte sich anfänglich. Da war ja alles dicht. Da standen die Platten, der Flügel, die Musikbücher, die Klavierauszüge. Aber dank des Angebots der Musikhochschule konnte sich die Idee, ein Bad dort zu bauen, doch noch durchsetzen.

Eine Wand voller Bücher wollte ich für meinen Vater als visuelles Erkennungsmerkmal seines Zuhauses erhalten. Ebenso einen Teil der CDs. Je näher der Termin für den Abtransport rückte, desto weniger war ich in der Lage zu entscheiden, was ich abgeben kann. Ich hatte nicht nur das Gefühl, meinem Vater das Herz herauszureißen, auch wenn er das alles nicht mehr brauchte, sondern fühlte mich für die Bibliothek und mich selber wie ein Scharfrichter. Egal, wie wenig Gebrauch ich in den letzten Jahrzehnten von ihr gemacht hatte, sie war in ihrer selbstverständlichen Präsenz ein treuer Gefährte geworden. Erst als die Umzugsmänner mit unzähligen Kartons anrückten und sich über Tage hinweg die Wände leerten, wich die Schockstarre und ich hielt einzelne Exemplare zurück.

Kurz darauf konnte mein Vater sein neues Schlafwohnzimmer mit barrierefreiem Bad beziehen. Er wirkte dort sehr zufrieden. Das ganze Haus atmete in seiner neuen Freiheit auf. Und die Pfleger konnten meinen Vater mit weniger Gefahren versorgen. Aber nur acht Monate später hatte das alles ein Ende. Die Krankheit war derart vorangeschritten, dass ein einzelner Pfleger nicht mehr die sichere Versorgung gewährleisten konnte. Wir lebten in einer entsetzlichen Sorge, die irgendwann nur noch eine Lösung kannte: Pflegeheim.

Wieder richtete ich mit einer abermals reduzierten Buch- und CD-Auswahl ein neues Zimmer für meinen Vater ein. Und dann kam dieser traurige Tag. Ein letztes Spargelessen zu Hause. Das Taxi. Die Pflegerin und ich heulend auf der Rückbank, mein Vater vorne. Wach, die Fahrt genießend. In seinem neuen Zimmer steuerte er sofort auf seinen vertrauten Sessel zu. Ich drückte ihm sein Lieblingsbuch in die Hand, er versank darin.

Dort las er noch ein Jahr.

Ein paar Monate nach seinem Tod stehe ich in der Hochschule für Musik und Theater. Es ist nicht abzusehen, wann die verantwortlichen Herren den "Tsunami Kaiser", wie sie die Bibliothek meines Vaters nennen, durchgepflügt haben. Aber viele Bücher sind bereits ausgepackt. Die Herren erklären mir ihr System. Ich bekomme es nicht mit. Ich streife über die Einbände. Unvermittelt wird mein Vater lebendig für mich. Das war er. Hier lebt er.

Inzwischen steht auch der Flügel meines Vaters in der Musikhochschule. Junge Musiker spielen an ihm und machen sich keine Gedanken darüber, von wem der Flügel stammt. Aber bei jedem Ton, den sie anschlagen, schlägt auch das Herz meines Vaters.

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