Jethro-Tull-Album "A Passion Play":Ballerinen so graziös wie die Bewohner der Wälder

Mit ihrem Album "A Passion Play" verneigte sich die britische Rockband Jethro Tull 1973 vor dem Surrealismus des britischen Humors. Nun ist die Platte in einer erneuerten und erweiterten Version herausgekommen. Zum Paket gehört auch ein filmisches Kleinod der Musikgeschichte, das hier exklusiv zu sehen ist.

Von Bernd Graff

Jethro Tull war ursprünglich der Vater der modernen Landwirtschaft, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Südengland wirkte. Dann war er auch der Namensgeber für eine 1967 im Vereinigten Königreich gegründete Rockband, in der die Querflöte als zentrales Instrument zum Einsatz kam.

Geführt wurde sie von dem dabei gerne auf einem Bein balancierenden Ian Anderson. Da aber diese Band ab den frühen Siebzigern sogenannte Konzeptalben vorlegte, auf denen Endlosstücke mit Litaneientexten zum Vortrag kamen, musste der gute Ian Anderson bei den äußerst erfolgreichen Live-Konzerten oft sehr, sehr lange auf einem Bein balancieren und Querflöte spielen, was er nur mithilfe einer Schlaufe schaffte, in die er das angezogene Bein steckt.

Ian Anderson, das als kleine weitere Skurrilität, sah übrigens ein wenig aus wie Catweazle, dieser Urtyp eines schrulligen Zeitreisenden, den sich das englische Fernsehen ausgedacht hatte. Dass Ian Anderson, der einbeinige Querflötist, so wirkte wie ein Märchen-Barde aus dem Kinderfunk, lag auch daran, dass er sich kleidete wie Che Guevara beim Clan-Urlaub in Schottland - was okay war, da es sowieso die Siebziger waren.

So, das fassen wir jetzt noch einmal zusammen: Querflöte bei einer Rockband, Konzeptalben und Suiten, Alben, die als musikalisch-thematische Einheit - oft nur ein Song pro Album - begriffen werden sollten, so wie große Opern eben.

Allerdings trugen die Jethro Tull-Opern Titel wie "Thick as a Brick", was soviel wie "Dumm wie Bohnenstroh" bedeutet. Inhalt der Oper: Ein realsatirischer Quatsch von Monty-Python-artigem Wahnsinn. Das alles war aber sehr erfolgreich, liebe Kinder! Höret, staunet! Glaubt man heute nicht mehr - und ist auch schwer zu begreifen.

Ausgezeichnete Musiker, die alle eine Botschaft hatten

Um zu verstehen, was da los war, muss man sich ein wenig zurück in diese irren Jahre grooven, in denen sich die Rock- und Popmusik ausdifferenzierte und dabei tatsächlich auch ein paar Abbiegungen nahm, die heute unvorstellbar scheinen. Progressive Rock war eine von ihnen.

Vertreter dieser rockmusikalischen Aberration waren - festhalten bitte!!!: Die Band Genesis, solange der andere große Querflötist der Branche, Peter Gabriel, noch mit diesem rasierten Glatzenscheitel dabei war, Yes, King Crimson, Emerson, Lake & Palmer, Pink Floyd, Mike Oldfield, aber auch Deep Purple und eben Jethro Tull.

Doch selbst innerhalb dieses Genres war man sich dann musikalisch keinesfalls einig. An die Eckpunkte kann man vielleicht Genesis auf die eine und Pink Floyd auf die andere Seite setzen - mit Jethro Tull in der diffusen Mitte.

Gemeinsam war allen Bands und allen ihren Konzeptalben: Sie waren alle ausgezeichnete, oft sogar studierte Musiker - und alle hatten Botschaften. Es ging also nicht - oder weniger - um schnelle Liebe und Blues pro Song, es ging um bedeutungsvolle - und für die Live-Konzerte auch musikalisch bedeutungsvoll arrangierten Storys. Und die kamen aus dem Bauch, aus dem mit Mittelchen aufgehellten (oder verdunkelten) Un- und Unterbewussten, waren psychedelischer Quatsch oder gleich ein Märchen.

Im heiter bis wolkigen Psychoparadies

Während man also Genesis mit den Alben: "Trespass" (1970), "Nursery Cryme" (1971), "Foxtrot" (1972), "Selling England by the Pound" (1973) und "The Lamb Lies Down on Broadway" (1974) eher in das Alice-Im-Wunderland-Paradies einordnen kann, Pink Floyd mit "Meddle" (1971), "The Dark Side of the Moon" (1973) und "Wish You Were Here" (1975) eher in die Ecke des Flirts mit dem dräuenden, raunenden Subkutanen stellt, liegt man nicht falsch, die Geschichten von Jethro Tull dazwischen anzusiedeln, im heiter bis wolkigen Psychoparadies: Die Platten "Aqualung" (1971), "Thick as a Brick" (1972) und "A Passion Play" (1973) waren auch Verneigungen vor dem Surrealismus des britischen Humors, das muss man sagen, und das trotz der Hits "Locomotive Breath" und "Aqualung". Gemeinsam ist aber all diesen Bands, dass sie großartig arrangierte Musikwerke bei ihren Konzerten zur Aufführung brachten, nuancenreich komplexe Stücke - oft auch überraschend, und dass diese Konzerte oft auch bombastische Bühnenexperimente waren. Man spricht darum auch vom Perfektionismus des Bombastrock.

Gerade "A Passion Play" ist in diesem Sinne verrückt: Schon die Geschichte seiner Entstehung klingt wie der Marathonlauf der Inkontinenten. Man nahm das Album auf einem Schloss bei Paris auf - Engländer, die in Frankreich eine Platte aufnehmen, mon Dieu. Doch das wurde nix. Man fing sich eine Salmonellenvergiftung ein, der Sound stimmte ganz und gar nicht, überhaupt geriet die Stippvisite aufs Festland auch zum finanziellen Fiasko.

Mehr oder weniger unverrichteter Dinge kehrte Jethro Tull auf die Insel zurück - und überlegte sich die Sache da nochmal gründlich. Bis auf ein paar Soundbites verwarf man, was man hatte, nannte das Ganze die Château D'isaster-Tapes und spielte umgehend etwas ganz Neues ein. Und das kam aber sowas von sofort auf Platz 1 der US-Charts. Und das, obwohl es überwiegend schlechte Kritiken dafür hagelte.

Die Rezensenten kapierten den Witz nicht, hielten die Texte - für diffus. Die Story - für wirr. Den Sound - für viel zu komplex, selbst für Progressive Rock. Recht hatten sie: Irgendwie ging es bei dieser Suite um Wiedergeburt und ewiges Leben. Dann aber gab es unvermittelt einen surrealistischen Einbruch in Form einer Fabel.

Hilfeersuchen an die Mit-Tiere

Erzählt wird darin die Geschichte eines Hasen, der seine Brille verloren hat, seine Mit-Tiere um Hilfe ersucht, die ihm auch gewährt wird. Und dann fällt dem Hasen ein, dass er ja eine Ersatzbrille hat. Bitte? Are you sure? Das Ganze wird auch noch von Bassist Jeffrey Hammond-Hammond gesprochen, nicht gesungen. Verfasst hat er den Schmonzes zusammen mit dem Einbein Anderson.

"A Passion Play" von Jethro Tull

Irgendwie Alice im Wunderland des Kölner Karnevals: "Die Geschichte vom Hasen, der seine Brille verlor".

(Foto: Chrysalis Music Ltd under licence from the Ian Anderson Group Of Companies)

Nun sind Jethro Tull nie in der Catweazle-Gruft wie andere Progressive-Apologeten geblieben, sondern haben in stetem, wenn auch nicht unbedingt gigantischem Erfolg immer weiter ihre Musik gemacht, auch wenn sie ab und an dabei ins Folk-Fach wechselten. Den gewaltigen Chart-Erfolg von "Passion Play" konnten sie aber nicht mehr toppen.

Dieses Album kommt nun in einer remixten-extended Version in schnuckligem 5.1-Sound wieder heraus. Und weil man an die wirren Jahre erinnern muss, in denen es entstand, hat es dem Label Warner Music gefallen, der Neuauflage eine DVD mitzugeben, auf dem sich ein an Absurdität nicht zu überbietendes Kleinod der Musikgeschichte befindet.

Jethro Tull haben damals, bevor die Salmonellen der Franzosen kamen, die verrückte Geschichte des Hasen, der seine Brille sucht und dann findet, auch noch verfilmt, in damals aufwendigem 35 mm. Eingeweihte und Kenner wissen, dass dieses Filmchen auf der "Passion Play Tour 1973" vor den Konzerten vorgeführt wurde, sozusagen zum Vorglühen. Nirgends sonst und danach auch nie wieder.

SZ.de bietet nun allen, die sich für die Geschichte der Popmusik interessieren, exklusiv an, diesen Film zu sehen. Jeffrey spricht auch hier, die Ballerinen sind graziös und so sind es die Bewohner der Wälder. Ein Spaß! Irgendwie auch psychedelisch. Sozusagen: Alice im Wunderland des Kölner Karnevals oder Monty Python und die Ritter des Brillengestells. Anschauen. Nur hier - und dann auf dem neuen remasterten Album "Passion Play".

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