Jenny Offills Roman "Wetter":Die Welt geht unter? Weiteratmen!

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"Aber Techniken, um eine furchtsame Seele zu beruhigen, sind vielleicht am nützlichsten." - Gewitterwolken über New York. (Foto: Denis Paquin/picture alliance)

Jenny Offills Roman "Wetter" und die Kunst, ganz leicht vom Allerschwersten zu erzählen: der Erosion all unserer Gewissheiten im Angesicht des Klimawandels.

Von Alex Rühle

Fangen wir ausnahmsweise mal von hinten an: Was, wenn es anders gekommen wäre im vergangenen Herbst? Trump hätte ja durchaus gewinnen können. Dann müssten wir weiter mit seiner manischen Zerstörungsarbeit leben und dem täglichen Twitterterror. Dieses Buch stammt aus der Phase der inneren Belagerung, der Zeit, in der seine Wiederwahl wahrscheinlich war und viele ratlos, ja panisch überlegten, wie man in einer derart feindlichen Umwelt geistig gesund bleiben könne. Einmal, ihr Mann ist auf Verwandtenbesuch, lernt Lizzie in einer New Yorker Bar einen charismatischen Frankokanadier kennen. Will ist Kriegsreporter auf Durchreise und er wundert sich: Normalerweise ist Amerika der sichere, ruhige Hafen, in dem er auftankt von all dem Chaos, der Brutalität und Zerstörung des Krieges. Diesmal hingegen fühle es sich an wie an seinen Einsatzorten. "Wie kurz bevor es losgeht."

Lizzie also. Lizzie Benson. Bibliothekarin in Brooklyn. Allerdings "wilde Bibliothekarin", Quereinsteigerin nach einem abgebrochenen Studium, einige Kolleginnen lassen sie das permanent spüren, mit stecknadelkleinen, spitzen Kommentaren. Sie bedient die Besucher, das blonde Mädchen mit den abgekauten Fingernägeln, die hier immer handtaschenweise Klopapier klaut, den Mann, der seit 12 Jahren an seiner Dissertation sitzt, oder morgens, im allerersten Absatz des Buches, "die weitgehend Erleuchtete. Es gibt unterschiedliche Stadien, und sie denkt, sie befände sich im vorletzten. Dieses Stadium kann man nur mit einer japanischen Wendung beschreiben. Sie lautet 'Eimer voller schwarzer Farbe'."

Früh dockt der Roman an das kollektive Unbewusste dieses ganzen Landes an

Lizzies eigentlicher Job aber ist es, sich um alle anderen in ihrer Umgebung zu kümmern, ihren muffeligen Mann, der mal alte Sprachen studiert hat, aber jetzt in irgendeinem Computerjob feststeckt. Um den gemeinsamen Sohn Eli, um ihre hinfällige Mutter und ihren Bruder Henry, einen Ex-Junkie, der versucht, clean zu werden und in einer absolut toxischen Beziehung untergeht. Lizzie bemüht sich darum, inmitten dieser permanenten Alltagsjonglage ein anständiges Leben hinzubekommen, aber ihre narzisstische Seite ist nicht kräftig genug ausgebildet, als dass sie sich dafür jemals irgendwelche moralischen Credit Points verleihen würde.

Den Bibliotheksjob hat ihre ehemalige Professorin Sylvia ihr besorgt, die große Stücke auf sie hält. Sylvia betreibt den erfolgreichen Blog "Komme, was wolle", in dem sie sich mit den Folgen des Klimawandels beschäftigt. Da sie die vielen Zuschriften nicht mehr bewältigen kann, bittet sie Lizzie, ihr zu helfen, und so dockt der Roman früh an das kollektive Unbewusste eines ganzen Landes an: Prepper, Apokalyptiker, Prediger, Klimawandelleugner, besorgte Mütter. Die einen fragen verrücktes Zeug, legen die Bibel aus oder erzählen abergläubischen Unsinn aus ihren jeweiligen Soziotopen. Die anderen schreiben von ihrer totalen Mutlosigkeit angesichts der politischen Ignoranz einerseits und der dunklen, unausweichlichen Größe des Themas auf der anderen Seite. Wie jeweils darauf reagieren?

Trump und der grandcanyontiefe innenpolitische Graben, dazu der am Horizont dräuende Klimawandel und die elementare Angst davor, die sich langsam über den ganzen Text zieht wie eine riesig düstere Tiefdruckfront. Das klingt nach einem schweren Roman, nach leitartikelnden Predigten und gravitätischen Exkursen. Das Gegenteil ist der Fall.

Jenny Offill: Wetter. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Melanie Walz. Piper Verlag, München 2021. 224 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Don DeLillo sprach mal von der "Sandkörnchenunendlichkeit der Dinge, die keiner zählen kann", der unübersichtlichen Fülle des Alltags, die täglich durch uns hindurchrieselt. Die New Yorker Autorin Jenny Offill hält all diesen körnchenkleinen Momenten ein feines Sieb hin und sammelt interessante Szenen. Das ganze Buch ist arrangiert aus Koan-kurzen Absätzen: "Eines Morgens erklärt mir eine Studentin, zu scheitern sei keine Option, und ärgert sich, als ich lachen muss. Ich sage zu ihr: ,He, ich hatte auch mal Pläne! Große Pläne, zumindest mittelgroße.' Sie starrt mich an. ,Entschuldigung?', sagt sie. Als sie weg ist, gehe ich schnell auf die Toilette, um mich zu vergewissern, dass ich keinen Lippenstift an den Zähnen habe."

All die Puzzleteile ergeben kein kohärentes Bild, im Gegenteil, man denkt zunächst, da habe jemand seinen tagebuchartigen Zettelkasten ausgeschüttet: abrupte Gesprächsfetzen, Begegnungen am Bibliothekstresen, Beobachtungen im Supermarkt, Blog-Zuschriften. Andererseits merkt man von der ersten Seite an, dass diese Momente nur deshalb so beiläufig und leicht wirken, weil sie enorm exakt gefeilt sind (in einem Interview sagte Jenny Offill mal, redigieren und überarbeiten heiße für sie in erster Linie "das Wegnehmen von Gewicht").

Also liest man sich weiter durch den Alltag dieser Frau, über die ihr Bruder sagt, sie würde sich "anziehen wie ein kleiner, unauffälliger Vogel". Die gelesenen Seiten wachsen langsam wie Sedimente in die Höhe, und langsam geschieht das Wunder.

Die amerikanischen Kritiker haben sich überschlagen in ihren Rezensionen

Die amerikanischen Kritiker haben sich überschlagen in ihren Rezensionen. Man muss nicht so weit gehen wie Ocean Vuong, der in einem Blurb behauptete, das Buch sei derart großartig, "wir sind gar nicht bereit dafür und haben es nicht verdient", aber die einzelnen Mosaiksteinchen fügen sich zu einem kaleidoskopartigen Panorama aus Stimmungen und Schwingungen, einem großen Zeugnis einer verwirrend dunklen, zersplitterten Zeit, nie pathetisch, davor bewahrt Offill schon ihr skeptischer Humor, aber so genau komponiert, dass zwischen den einzelnen Absätzen oft eine Art elektrostatische Spannung zu sirren scheint.

Einmal erzählt Lizzie, dass sie immer schon besessen war "von verschollenen Büchern, von all denen, die nur halb geschrieben waren oder in Fragmenten zusammengesetzt wurden". Sie erzählt nicht, warum das so ist, aber wer solch versprengten Teiltexten etwas abgewinnen kann, muss selbst bereit sein, viel Ergänzungsarbeit zu leisten. Außerdem merkt man mehr und mehr, wie adäquat diese Art des Erzählens ist: Wie überhaupt noch ein Sinnkontinuum herstellen oder behaupten, wenn klar ist, dass ohnehin grade alles, wirklich alles, was bisher unsere Koordinaten ausmachte, erodiert? Aus dem Blog: "Frage: Wie kann ich meine Kinder am besten auf das bevorstehende Chaos vorbereiten? - Antwort: Sie können ihnen beibringen zu nähen, zu pflanzen, zu bauen. Aber Techniken um eine furchtsame Seele zu beruhigen, sind vielleicht am nützlichsten."

Sylvia schmeißt irgendwann alles hin, ihre Lehrtätigkeit genauso wie ihren Blog, und zieht in die Wüste. Will, der Kriegsreporter, geht nach Kanada, die USA sind ihm zu düster. Lizzie bleibt. Mitten in Brooklyn, wo der Bürgermeister sich mit niederländischen Dammexperten berät, wie man die Stadt gegen den steigenden Meeresspiegel verteidigen kann. Mitten in ihrem kleinen demolierten Leben. Klar, auch weil ihr schon der Sprint zum Bus zu viel ist, wie sollte sie dann als Prepperin irgendwo in den Weiten Montanas überleben. Aber auch, weil es nun mal die geben muss, die sich weiterhin kümmern, da wo sie sind.

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