Süddeutsche Zeitung

Jennifer Egan: "Candy Haus":Lies meine Gedanken

Jennifer Egans Roman über die Melancholie der Jahrtausendwende war ein großes Erzählexperiment. Jetzt kommt die Fortsetzung.

Von Marie Schmidt

Während das digitale Leben unsere Aufmerksamkeitsspannen in Sekundenabschnitte stückelt, verhalten sich die literarischen Formen gegensätzlich: Das epische Erzählen bringt viele Hundert Seiten schwere Romane hervor, ernsthaft moralische wie von Jonathan Franzen oder emotional überwältigende von Hanya Yanagihara. Der Realitätssinn leidet unter der Vielfalt online verfügbarer Wirklichkeitsangebote, im Roman aber verlässt man sich auf den guten alten Realismus. Noch übertroffen vom Anspruch an die Wahrhaftigkeit der Autofiktion, bei Knausgård oder Annie Ernaux.

Die Literatur ordnet die Welt, wo sie sie noch vor ein paar Jahrzehnten durcheinandergebracht hat. Erinnert sich wer, wie in Paul Austers "Stadt aus Glas" ein sich als Privatdetektiv namens Paul Auster ausgebender Krimiautor im Telefonbuch den Schriftsteller Paul Auster fand, bald darauf aber verschwand, sodass nun ausgerechnet Paul Auster seine Notizen zum Roman "Stadt aus Glas" machen konnte? Ist das lange her! Vergessen die Maskenspiele der Postmoderne, die Metalepsen, das Spiel mit dem nicht linearen Erzählen, die Euphorie des Hypertextes. Das Denken in Netzwerken, das Springen zwischen den Profilen des Selbst ist jetzt Alltag, bitter, fad, erschöpfend. Die Menschen sehnen sich nach stabilen Geschichten, Autorinnen und Schriftsteller offenbar auch.

Eine der wenigen, die ihren erzählerischen Möglichkeitssinn und den Humor unterdessen nicht verloren haben, ist die amerikanische Schriftstellerin Jennifer Egan. 2010 hat sie zum Staunen der Welt einen populären Roman geschrieben, in dem sie mit jedem Kapitel die Form wechselt, eines zum Beispiel als Powerpoint-Präsentation erzählt. Irgendetwas Menschliches musste sogar in dieser Benutzeroberfläche zu finden sein, und Egan schrieb in Präsentationsfolien von einem besonders sensiblen Kind. "A Visit From The Goon Squad", auf Deutsch "Der größere Teil der Welt", war ein Episodenroman aus der Post-9/11-Stimmung: Egan sampelte die Geschichten eines Grüppchens loser Bekannter, die in New York mit Rockmusik zu tun hatten oder mit Public Relations oder mit Drogen.

Die Teenie-Idole von eben alterten ungut, aus jungen Geliebten wurden dritte Ehefrauen

Sie kontrastierte genaue Charakterzeichnungen mit Zeitsprüngen und Stilwechseln, verfuhr dabei aber lässiger, nicht so gewichtig wie David Foster Wallace oder Thomas Pynchon. Außerdem konnte sie sich auf die Gewohnheiten einer Leserschaft verlassen, die an den episodischen Erzählweisen des relativ neuen Serienfernsehens geschult worden waren: Das Jahrzehnt von "The Wire" und den "Sopranos" ging gerade zu Ende. Es funktionierte, Egan bekam den Pulitzerpreis für das Buch, und die Begeisterung war einhellig.

Bei allem Spaß an der Form lag eine fühlbare Melancholie in der zentralen Frage des Romans, "was zwischen A und B passiert ist", die erzähltechnisch wie lebensgeschichtlich zu verstehen war: Die Teenie-Idole von eben alterten ungut, aus jungen Geliebten wurden dritte Ehefrauen von Männern mit zweifelhaftem Einfluss und unglücklichen Kindern. Etwas schien unwiederbringlich verloren zu sein, nicht nur in der Skyline von Manhattan: "Da müsste etwas sein, weißt du", sagt eine Figur: "Wenigstens eine Art Echo." Das Gegenüber gibt zurück: "Die werden schon was hinstellen."

Tatsächlich, heute steht an der Stelle der Zwillingstürme wieder etwas. Und an dem Gefühl von "A Visit From The Goon Squad", dass "alles zu Ende geht", haben wir inzwischen ein paar Mal einfach vorbeigelebt. Heiß erwartet erscheint nun ein neuer Episodenroman von Jennifer Egan, in dem Figuren aus dem ersten wieder auftauchen. In der Logik der Erzählweise müsste man sagen: "Candy Haus" ist die zweite Staffel, und es kann nicht schaden, die erste vorweg zu bingen.

Aus dem "Kollektivbewusstsein" kann man sich anderer Leute Erlebnisse laden

Der neue Roman beginnt mit einem Typen, den man im vorigen Roman mal im Hintergrund sitzen sah, über einen Rechner gebeugt im Nebenzimmer einer verquarzten WG. Dazu passt die Anekdote, wie Steve Jobs, mit dem Jennifer Egan in den Achtzigerjahren kurz zusammen war, ihr eines Nachts einen nagelneuen Macintosh im Schlafzimmer installiert haben soll. In der Gegenwart ihres neuen Buches ist der Tech-Mogul Bix Bouton inzwischen so berühmt, dass er nicht mehr unerkannt durch New York laufen kann. An seine Vergangenheit, die wir aus dem ersten Roman kennen, denkt er als eine Zeit, die "bald obsolet wäre", er hat die Entdeckung des Internets vorhergesehen und es mit seinem sozialen Netzwerk "Mandala" verändert. Die Frage ist nun, ob ihm so eine grundstürzende Innovation noch ein zweites Mal gelingt.

Im Vorgängerroman hat Jennifer Egan aus dem großen Rausch der Popkulturjahre und dem Kampf gegen das Alter eine milde Sonnenuntergangsstimmung gemischt, die für die Jahrtausendwende charakteristisch zu sein schien. In "Candy Haus" geht es um die Dekaden einer rasenden technischen Evolution, die Lebensstile, Probleme und Figuren hervorbringt, die man eben noch für unmöglich hielt. Um den betäubenden Optimismus zu imitieren, mit dem sich das menschliche Bewusstsein seinen Erweiterungen durch mobile Geräte, Apps, Datenverkehr anpasst, muss Egan nun das Neue, an das wir uns immer schon gewöhnt haben, eskalieren: In ihrem Near-Future-Szenario entwickelt Bix Bouton einen externen Speicher für das Unterbewusste. Damit kann man sich die eigenen Erinnerungen von außen vollständiger ansehen, als man sie vor dem inneren Auge hat.

Natürlich gibt es bald darauf auch eine Cloud, ein "Kollektivbewusstsein", aus dem man sich anderer Leute Erlebnisse runterladen kann. Es gibt Dataminer, die Motive und Gesten aus Fernsehserien und realmenschlichen Beziehungen katalogisieren, in Formeln berechenbar machen. Aus den Daten entstehen "Proxys", Platzhalter, die digitale Identitäten weiter am Leben erhalten, während die Menschen dahinter sich in die Anonymität davonmachen.

Kleine Geräte, "Asseln" genannt, geben Signale direkt ans Gehirn, denn wo man Informationen herausholen kann, wird man natürlich auch welche hineinsenden. Ein Kapitel erzählt Egan in Form von Befehlen, die eine Frau namens Lulu als ferngesteuerte Geheimagentin innerlich sendet und empfängt: "Um ein optimales Ergebnis zu erzielen, formuliere den Gedanken im Geist deutlich aus."

Dissoziative Tricks, wie eine Figur mittels des Eigennamens "Paul Auster" durch verschiedene Fiktionsebenen gleiten zu lassen, waren in der alten Postmoderne formale Experimente. Die Macht darüber behielt stolz der Autor. Jetzt sind Charaktere, die zwischen datenförmigen, von Medikamenten gedimmten, gefilterten Versionen ihrer selbst taumeln, ein plausibler Teil der erzählten Welt. Aber selbst eine so furchtlose Erzählerin wie Jennifer Egan kann erschreckend wenig mit ihnen anfangen. Das ist die große Enttäuschung dieses Romans, die womöglich bezeichnend ist für unsere Biedermeierphase des digitalen Zeitalters.

Egans Figuren glauben keine Sekunde an die Utopie, die so ein allen gemeinsamer Bewusstseinsspeicher bedeuten könnte: endlich ein objektiver Blick auf die Wahrheit der anderen, absolute Empathie, mit allen politischen Folgen. Stattdessen suchen die Menschen auch in einer solch radikal entgrenzten Welt vor allem nach schützenden Winkeln für ihr zerbrechliches Selbst. Egan zeigt einen Familienvater, der erst zur Ruhe kommt, wenn er sich seine Familie im Facebook-Account seiner Frau ansieht. Ein Mädchen findet ihr eigenes Bild in den Erinnerungen des Vaters mit geringschätzigen Gedanken unterlegt. Sie schaltet sofort ab. Überhaupt suchen die Kinder der Hippies, Kiffer und Punks von einst im externen Unterbewusstsein nicht nach der Vereinigung mit dem Weltgeist, sondern vor allem ihre Eltern, also nach einer verlorenen Liebe, die ihnen allein gelten würde.

Dabei ist ja die Frage, wie man überhaupt noch von Einzelnen erzählen würde, wenn subjektive Wahrnehmungsunterschiede massenweise zugänglich würden, radikaler, als es sich die Kunst etwa seit Filmen wie "Rashomon" erträumt. Müsste man kollektive Erzählperspektiven erfinden? Auf solche Ansprüche reagiert Jennifer Egan auffällig schlapp. "Das Kollektiv", heißt es gegen Ende über den Sohn des Tech-Gründers Bix Bouton, der ausgerechnet Schriftsteller geworden ist: "Er nahm es auch ohne Technologie wahr. Und die darin enthaltenen Geschichten, ob allumfassend oder individuell - er würde sie erzählen." Die trotzige Selbstbehauptung einer Literatur, die sich vor der disruptiven Gewalt des technischen Fortschritts entschieden zurückzieht und es offenbar nicht damit aufnehmen will. Obwohl man das Jennifer Egan doch als Erster zugetraut hätte.

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