Süddeutsche Zeitung

Jelinek-Uraufführung:Ski Geil

Das Theater als Schweinekoben und Echokammer in verseuchter Zeit: Elfriede Jelineks Pandemiestück "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!", uraufgeführt am Deutschen Schauspielhaus Hamburg.

Von Christine Dössel

Da geht es im Theater endlich wieder los, jetzt auch in Hamburg, hier sogar unter einem besonders irren Kontrollaufwand, mit maximal zwölf Stunden altem Corona-Schnelltest, doppelter Ticket-Prüfung, persönlicher Identifizierung und einem Einlassbändchen wie für einen Club - und dann ist nichts zu sehen! Nichts. Zwanzig Minuten lang absolute Dunkelheit. Das ist einigermaßen perfide. Auch wenn sich die Situation heimlich ausnutzen lässt, um im ausgezehrten Parkett des (nach wie vor: wunderschönen) Hamburger Schauspielhauses die leidige FFP2-Maske ein wenig zu lupfen. Bevor man unter dem Stoff dann drei Stunden lang um jene Luft ringt, die später auf der Bühne immer wieder beschworen wird, während die Brillengläser beschlagen. Als seien wir mit Blindheit geschlagen. Was wiederum sehr gut passt zu einem Stück, dass das Sehen beziehungsweise das behinderte Sehen durch verschmierte, von unserem "aufgeregten Atem" beschlagene "Plexiglasscheiben" schon im Titel trägt, nebst dem allgemeinen Geschwalle: "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!", das neue Stück von Elfriede Jelinek. Es geht um das mediale Gesums in verseuchten Zeiten.

Während es also erst einmal dunkel bleibt im Theater, gibt's umso mehr auf die Ohren. Es ist eine polyphon wabernde, suggestiv blubbernde Hörspiel-Collage vom Band, mit der Karin Beiers Inszenierung raunend beginnt. Komponiert hat sie, wie die gesamte formidable Musik und dräuende Soundgrundlage dieser Uraufführung, der musikalische Leiter Jörg Gollasch. Er nutzt das Schauspielhaus als Echokammer. "Hören Sie!" Stimmfetzen zucken wie Blitze, Sätze wie Widerhalle aus dem Medien-Gewitter unserer Zeit. Zum Beispiel O-Ton Angela Merkel: "Glauben Sie keinen Gerüchten!" Andere Stimmen sind dem Chef-Virologen Christian Drosten oder Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zuzuordnen. Aber auch Jana aus Kassel dringt durch. Dazwischen, von den Schauspielern eingesprochen, andere, angeblich wahrere Wahrheiten: "Nur uns dürfen Sie glauben! Wir haben es selbst gelesen." Sätze von Elfriede Jelinek, der wortgewaltigen, gewohnt kalauerfreudigen Erzählerin dieser Pandemie-Kakofonie.

Ein rauschender Schwall aus Angelesenem, Aufgeschnapptem,Kolportiertem - böse Zungen würden sagen: Jelinek-Logorrhoe

Die erscheint mal wieder als eine Beobachterin aus höherer Warte, ein starkes Ich implizierend, aber dann immer wieder auch sich gemein machend mit einem ominösen "Wir" - dem Wir der Misstrauischen und Besserwissenden, der Ängstlichen, Twitternden, Böses Witternden. Aber auch dem Wir der Mächtigen und Macher und sexgeilen Macker. Ein Über-Ich und ein virales Wir.

Das hat ja überhaupt noch gefehlt, dass sich im allgemeinen Stimmengewirr dieser, wie es gerne heißt, "seltsamen Zeit" auch die österreichische Nobelpreisträgerin zu Wort meldet, die sich als Dramatikerin ja immer einmischen muss, egal ob es um die Wirtschafts- oder die Flüchtlingskrise geht, um das Gletscherbahnunglück von Kaprun oder den Reaktorunfall in Fukushima, um Donald Trump oder sonstige Katastrophen. Sie schreibt von ihrem Wachturm aus, der nicht aus Elfenbein ist, dann immer gleich los, als Schnellste, Grellste von allen, zündelt und richtet einen Textflächenbrand an. Auch diesmal wieder. Mehr als 80 eng beschriebene, anstrengend zu lesende Seiten, ein rauschender Schwall aus Angelesenem, Aufgeschnapptem, Zitiertem, Kolportiertem - böse Zungen würden sagen: Jelinek-Logorrhoe.

Weniger eine Wut- und Glutrede diesmal als ein Satyrspiel, ein groteskes, ohne Rollenzuschreibungen, ohne Figuren, dafür gibt es einmal eine Regieanweisung, eine einzige, sie verlangt "ein Schweineballett im Chor", dazu die Ansage: "Die Schweine tanzen jetzt die Krankheit." Das wird auf der Bühne dann auch erfüllt, aber erst viel später. Zunächst einmal hebt das Geschehen, nach zwanzig Minuten blinden Hörens, mit einem nächtlich-schrägen Trompetensolo des Schauspielers Lars Rudolph in Unterhose an, der wenig später auch schon als verrückter Wissenschaftler in bester Mad-Scientist-Tradition zu sehen ist. Während um ihn herum ohnehin der Wahnsinn tobt: der Après-Ski-Exzess alpenländischen Zuschnitts, wie er vom Tiroler Superspreader-Ort Ischgl überliefert ist, etwa dem dortigen "Kitzloch", wo das Virus fröhliche Wirte fand.

Eine solche Alpenbar im prächtig rustikalen Stadel-Look hat Duri Bischoff ziemlich originalgetreu auf die Bühne gebaut, mit Fenstern für aufwändige Videoeinspielungen und einer Empore für die Drei von der Blasmusik (die auch Cello, Klavier und Percussion können). Geile Location. Geile Musik. Und dann erst das urgeile Partyvolk, das sich hier, "in der Arschlochbar in den Alpen", in feschen Leder- und Thermohosen tummelt, manchmal auch mit Masken im Gesicht (aber antiken!), während es draußen stürmt und schneit: acht grandios gute, sich gnadenlos verausgabende, auf Jelineks Textpiste sicher carvende Schauspieler, vier Männer (Jan-Peter Kampwirth, Lars Rudolph, Ernst Stötzner, Maximilian Scheidt), vier Frauen (Eva Mattes, Angelika Richter, Julia Wieninger, Josefine Israel). Wicke Naujoks hat sie in die neueste, teuerste Wintersportmode gekleidet. Fellmützen, Ugg Boots, Skianzüge, Pelze - es ist ein wahres Schaulaufen, ein Kostüm- und Maskenfest, dessen Opulenz über die Aporien, Längen und nervigen Buckel, die es an diesem Abend schon auch gibt, gerade am Anfang, hinweghilft.

"Poch poch" macht es an der Tür, und dann kommt schon wieder ein neues Gerücht herein

Neu oder gar erhellend ist das ja erst mal nicht, dieses Gebrabbel über das Virus, ob es überhaupt existiert oder nicht, ob es schlimm ist oder harmloser als eine Grippe, ob es in einem Labor gezüchtet wurde, eine Biowaffe, um uns zu vernichten, all die Verschwörungstheorien über Mikrochip-Implantierung, Radiowellen, Strahlungen und wer wohl dahinterstecken könnte, "die Chinesen" oder mächtige "Dunkelmänner", die "Familie Rothschild", die "Herren Soros und Gates, die die Weltherrschaft übernehmen wollen". "Poch poch" macht es an der Tür, und dann kommt schon wieder ein neues Gerücht herein, schon wieder einer, der etwas weiß: "Wir haben sie durchschaut."

Zu einer tieferen, auch theatralisch ergiebigeren Essenz findet das Stück dort, wo Jelinek es engführt mit dem antiken Mythos, wie sie das ja gerne tut, hier: mit dem zehnten Gesang der "Odyssee". Da erzählt Homer, wie die Zauberin Kirke auf der Insel Aiaia die Gefährten des Odysseus nach einem Gelage in Schweine verwandelt. Es ist von satirischer Verve und Bosheit, wie Jelinek von den verschwörungsinkriminierten Sendemasten auf den Schiffsmast des Osysseus und dann auf die Schweinemast kommt, auf die Fleischfabriken à la Clemens Tönnies, wo Billiglohnarbeiter sich mit Corona angesteckt haben. Wobei die Schweine-Metapher sich aber auch auf die "Kitzloch"-Männer und "Muschifreunde Karlsruhe" bezieht, die auf der Bühne an aufblasbaren Sexpuppen herummachen, dass kein Loch ungestopft bleibt.

Dieser Fährte der Fleischlust und fleischlichen Gier folgend, die hinführt zur malträtierten Natur und leidenden Kreatur an sich, gewinnt auch Karin Beiers Inszenierung zunehmend an Schärfe und bitterer Kontur und stößt dann dahin vor, wo es eklig wird und weh tut. Die auf der Bühne verwendeten Schweinehälften schauen sehr echt aus, auch der Schweinskopf, an dem Eva Mattes herumsäbelt. Die abstoßenden Aufnahmen aus den Schlachtfabriken samt selbstgedrehter Videos von Operationen am Tier tun das Ihrige. Das Virus, das hier tötet, heißt Mensch. Überhaupt wird die Bühne nach der Pause vom Après-Ski-Tollhaus immer mehr zum Schlacht- und Krankenhaus. Gekachelte Wände, Vorhänge in OP-Türkis.

Eva Mattes, die vor einem halben Jahrhundert hier in Hamburg bei Peter Zadek eine skandalumwitterte nackte Desdemona war, darf den Spieß jetzt umdrehen und den Männern die Hosen ausziehen, was sie als Kirke, genannt "die Zauberin", genüsslich tut. Männer sind Schweine, die Inszenierung liefert den Beweis. Nackt, beschmiert, mit Latexmasken und Rüsseln grunzen und brunzen sie auf allen Vieren. Bis die Frau, die sie doch "nur ficken wollten", nach Fürsprache von Ernst Stötzners zottelmähnigem Odysseus sie wieder zurückverwandelt: in noch geilere Ausgaben ihrer selbst, posierend mit dicken Gemächten in goldenen Schlüppern. Jetzt schnell ein "Dick Pic", und bitte "weiterleiten an alle".

Die Luft ist dann leider raus, wie Stötzner feststellt - aber nur aus seiner Sexpuppe. Und aus manch einer viruskranken Lunge. Nicht aber aus Beiers Inszenierung. Die spitzt sich in der letzten Stunde noch einmal düster zu. Etwa wenn die Schauspieler zu einem famosen Zombie-Sprechchor aufmarschieren namens derer, die sich nicht gehört glauben ("Wir sind die Guten!"). Am Ende steht ein 15-minütiger Hammer-Monolog, für den die absolut großartige Julia Wieninger ihre aufgeklebten Schlauchbootlippen abnimmt, aber eine umso größere Lippe riskiert, heideggert es in diesem Schlusstext doch gewaltig, wie oft bei Jelinek. Ein tiefbrauner, sehr gefährlicher Abgrund tut sich da auf. Das ist die Verweiskraft dieses prallen Abends.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5313974
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/rich
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.