Süddeutsche Zeitung

Favoriten der Woche:Wie wir schöner streiten

Das Social Media-Format "Streitgut" erkundet die Kunst des Zuhörens in Debatten. Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Diskursanalyse: Das Social Media-Format "Streitgut"

Ein mutmaßlich nie gehörter Satz in Talkshows von Lanz bis Maischberger: "Darüber muss ich mal nachdenken, vielleicht haben Sie recht." Woran die meisten öffentlichen Streitgespräche häufig scheitern, analysiert jetzt ausgerechnet ein Kanal in den nicht für besonnene Debatten berühmten sozialen Medien. "Streitgut" widmet sich auf Instagram und YouTube schwer entzündlichen Themen wie Waffenlieferungen in die Ukraine, Gendern, Klimaprotest - rein diskursanalytisch. Die Wahrheit liegt nämlich nicht in der Mitte der stahlharten Fronten, sondern eher zwischen Sprechen und Hören, wie sich Wort und Ohr verfehlen, oder in der falschen Meta-Wahrnehmung, mit der wir uns schon vor dem Reden kritisiert fühlen. Der Moderator Daniel Privitera massiert mit wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Psychologie oder Politikwissenschaft den eigenen dick verputzten Schädel, erklärt den herablassenden Effekt des Wörtchens "man" in Gesprächen und erinnert daran, sich selbst zu fragen: Was sind die Argumente meines Gegenübers? Was würde mich vom Gegenteil überzeugen? Schöner kann man nicht entlarvt werden. Marlene Knobloch

Klassik: Jean Rondeau, "Gradus ad Parnassum"

Diese Zusammenstellung ist mutig: Palestrina, Beethoven, Debussy, Mozart und noch allerhand dazwischen. Der Cembalist Jean Rondeau, einer der interessantesten seiner Zunft, hat sich weit aus dem Fenster gelehnt, um zusammenzubringen, was nicht ohne weiteres zusammengehört. Nehmen wir Palestrina, das Genie europäischer Vokalmusik. Sein Kompositionsstil wird seit zweihundert Jahren schulmäßig als sogenannter Kontrapunkt gelehrt, und mit Cembalomusik hat seine Klangsprache so gar nichts zu tun. Aber welche Überraschung: Aus den langgezogenen Vokallinien werden in seinen streng kontrapunktischen instrumentalen Ricercari einzelne Klangkugeln, kleine Planeten, die sich zu einem eigenen Kosmos formieren. Danach hält man alles Weitere, das hier in die Klangwelt das Cembalo gewandert ist, für ganz normal und höchst inspirierend. Helmut Mauró

Aktionskunst: Nagellack zum Frauentag

Vor einigen Jahren bewarb sich ein junger Künstler mit einer Idee bei einer örtlichen Aktiengesellschaft. Die baute gerade an ihrer Zentrale herum und wollte davor gern eine Skulptur haben, also schrieb sie einen Wettbewerb aus, Thema: Nachhaltigkeit. Der - schleunig abgelehnte - Vorschlag bestand darin, eine flache Metallplatte zu installieren und das ganze Jahr über sinnlos zu beheizen. Titel: Die Placebopille. Man kann diese Geschichte hier zitieren, weil die Rap-Gruppe K.I.Z. sich eine ebenso angemessen plakative Placebotunke ausgedacht hat. Am Mittwoch brachten sie "exklusiv zum Weltfrauentrag" einen Nagellack heraus, in Violett, der Farbe der Frauenbewegung - was nur unwesentlich dreister als andere, völlig ernst gemeinte Pinkwashing-Aktionen zum Frauenjubeltag war. Der Slogan dazu lautet: "Wir schminken euch alle!" In einem Instagram-Post ersetzte die Band das Wort "schminken" durch einen Cartoonfinger mit violettem Nagellack. Vermutlich ein Mittelfinger, aber das wäre reine Spekulation. Philipp Bovermann

Literatur: "Medea"-Neuübersetzung

Der Tragödienstoff der Medea handelt von rasender, selbstverletzender Eifersucht. Medea bringt nicht nur die Nebenbuhlerin um, die ihr Geliebter Iason zur Frau genommen hat, sondern im Furor der Rache auch die gemeinsamen Kinder. Zuvor hatte sie für Iason schon schwerste Verbrechen begangen, Zauberei, Anstiftung zum Mord durch Zerstückelung und anschließendem Kochen der Leichenteile. Der Mythos als Schlachthaus. Die Tragödie des Euripides blickt darauf mit dem Befremden der Zivilisation, die sich von Medea als Barbarin abgestoßen fühlt: eine Frau aus der Fremde, die nach Hellas nicht passt.

Das muss man übersetzen, mit Sinn für Tonlagen. Kurt Steinmann, derzeit der kundigste Verdeutscher antiker Dramen, hat eine Version der "Medea" erstellt, die eng am Wortlaut bleibt (Steinmann nennt sie "dokumentarisch" im Sinne des Vorbilds Wolfgang Schadewaldt), dabei auch unpedantisch die originalen Versmaße aufgreift, zugleich reproduziert sie etwas von der euripideischen Lässigkeit im Umgang mit dem Mythos. Diese "Medea" (Manesse Verlag) ist gleichermaßen genau und heutig. Iason, der Medea viel zu harmlos nimmt, wirft ihr vor: "Soweit ist es mit euch gekommen, dass wenn rund es läuft/ im Bett, ihr Frauen glaubt, die ganze Welt gehöre euch." Wie bitte, "wenn rund es läuft im Bett"? Ja: orthoumenes eunes, Genitivus absolutus, knapper wäre: "bei Richtigkeit des Betts" (orthos, das kennt man aus der Orthodoxie).

Solche Entdeckungen kann man in dieser opulenten zweisprachigen (wenn auch nicht druckfehlerfreien) Ausgabe ständig machen. Die von Medea tückisch mit einer todbringenden Garderobe beschenkte Nebenbuhlerin legt sie an und frisiert sich vor einem Spiegel: "bringt (...) ihre Haare in Fasson", übersetzt Steinmann, das griechische Wort heißt "schematizetai" (sprich: s-chematizetai), das klingt nach Friseurhandwerk wie "Fasson": "Heute wieder a bissl Schematisieren?"

Auf das Grauen des Mythos wird bei Euripides eine Schicht urbaner Ironie gelegt, und dank Steinmanns transponierender Dokumentation können das nun auch heutige Leser (m/w/d) erfahren. Sehr schön auch die begleitende Abhandlung von Thea Dorn im etwas unironisch illustrierten Band. Gustav Seibt

Dokumentarfilm: "Three Minutes. A Lengthening"

Aufruhr in einer kleinen polnischen Stadt, im Frühjahr 1938: Die Kinder drängen sich um die Kamera, lachend, die Erwachsenen drehen sich zu ihr, die Menschen, die gerade aus der Synagoge kommen, können den Blick nicht abwenden. Die meisten von ihnen, man spürt das, haben noch nie eine Kamera gesehen, schon gar nicht eine, die auf sie selbst gerichtet ist. Einmal sucht die Kamera über die Köpfe hinweg die Gebäude dahinter, aber die Jungs und Mädchen gewinnen, bald sieht man wieder ihre Gesichter, sie haben die Bilder zurückerobert. Manche der kurzen Einstellungen sind sogar in Farbe - und dadurch rücken diese Menschen, in einer Entfernung von 85 Jahren aufgenommen, ganz nah.

Drei Minuten dauern die Aufnahmen, die ein amerikanischer Tourist damals gemacht hat, als er bei einer Europareise den Ort an der polnisch-ukrainischen Grenze besuchte, an dem er geboren worden war und den er als kleines Kind verlassen hatte. Sie zeigen eine jüdische Gemeinde, Bald wurden fast alle, die man in diesen drei Minuten sieht, deportiert, die meisten wurden in Treblinka ermordet.

Um die Bilder herum hat die Filmemacherin Bianca Stigter eine kleine Erzählung gestrickt (gesprochen von der Schauspielerin Helena Bonham Carter), halb Essay, halb Recherche - als die Aufnahmen 2009 auftauchten, musste erst einmal herausgefunden werden, wo genau sie entstanden waren. Bianca Stigter bringt das fröhliche Davor und das schreckliche Danach zusammen. Nach und nach, mit Hilfe der wenigen Überlebenden und mit Informationen von Historikern und Wissenschaftlern, bekommen die ungefähr150 Menschen, die man in diesem kleinen Filmdokument sieht, eine Geschichte, Namen und Schicksale. Bei den Mädchen, erzählt eine Stimme aus dem Off, da kann er nicht helfen, die kannte er nicht, zu streng ging es zu in seiner Familie. Es ist nicht wahr, dass der Film den Tod transzendiert. Aber er hält die Erinnerung lebendig. Bianca Stigters "Three Minutes. A Lengthening" wurde im Jüdischen Museum Berlin vorgestellt und ist seit März in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung verfügbar. Susan Vahabzadeh

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