Es musste Jean-Luc Nancy zum Nachdenken angeregt haben, als er erlebte, wie das Corona-Virus den Alltag der Gesellschaft veränderte. Zentrale Begriffe seines Philosophierens waren durch die Abstandsgebote, die Komplikation von Berührungen und kollektiver physischer Anwesenheit, die leeren Straßen in den Städten aufgerufen. "Noli me tangere" (2009) hieß eines seiner Bücher. Er legte darin das Berührungsverbot aus, das der auferstandene Christus an Maria Magdalena richtet, mit Blick auf die Bildtradition, die dieser biblischen Szene entspringt. Eine rein historische Übung war das für ihn nicht.
Denn er war beides zugleich, ein Philosoph, der über die Körperlichkeit der Menschen nachdachte, und ein Gesellschaftsbeobachter, für den auch in der modernen Gesellschaft trotz aller Abstraktionen nicht lediglich Denksubjekte oder Individuen mit reichem seelischem Innenleben aufeinandertrafen, sondern leibhaftige physische Existenzen. Es gab für ihn kein Dasein ohne "Mitsein". Darum gehörte wie die "Berührung" die "Haut" zu den Schlüsselbegriffen, die er über ihre physiologische Dimension hinaus zur philosophischen Zeitdiagnose hin öffnete, bis hin zu "La peau fragile du monde" ("Die zerbrechliche Haut der Welt", 2020), seinem vorletzten Buch. Im Oktober 2020 folgte das letzte, "Un trop humain virus", hervorgegangen aus der Erfahrung des Lockdowns. Darin unterwirft das Virus die Gesellschaft einem Test und zeigt durch die Suspension und Unterbrechung der Routinen auf, welchen Gesetzen sie auf der globalen Ebene und auf der nationalen, französischen folgt.
Jean-Luc Nancy war 1940 geboren, in Caudéran in der Gironde, und er hatte sein Philosophiestudium in Paris absolviert. Aber ein mächtiges Gesetz der französischen Literaten- und Intellektuellenwelt, das den Auszug aus der Provinz in Richtung Metropole fordert, galt für ihn nicht. Er war respektiert in Paris, verkehrte mit seinem Mentor Jacques Derrida, der ihn in seinem Buch "Berühren, Jean-Luc Nancy" würdigte, war Kosmopolit und Gastdozent an vielen internationalen Universitäten, aber er lehrte jahrzehntelang an der Université Marc Bloch in Strasbourg, in engem Kontakt mit seinem Jahrgangsgefährten und Freund Philippe Lacoue-Labarthe, der Nietzsche, Heidegger, Walter Benjamin übersetzte und oft sein Co-Autor war.
Nicht nur geographisch lag Nancys Strasbourg nah zu Deutschland, die deutsche Philosophie und Literatur gehörte zu seinem intellektuellen Kosmos. Die deutschen Frühromantiker um Friedrich Schlegel in Jena um 1800 mit ihrer Lust an der Form des Fragments und allen reflexiven Lizenzen der Zuspitzung von Gedanken inspirierten sein Buch "L' Absolu littériare" (1981), an Hegel interessierte ihn die "Unruhe des Negativen", noch 2017 mischte er sich in die Kontroversen um die Frage ein, ob der in den "Schwarzen Heften" zutage getretene Antisemitismus Heideggers seine Philosophie beschädige.
Ein Buch hat er über das Leben mit einem transplantierteen Herz geschrieben
Den Tastsinn hatte im deutschen 18. Jahrhundert Johann Gottfried Herder aufgewertet, aber in der französischen Descartes-Tradition war die Philosophie mit den "höheren Sinnen", vor allem dem Auge, im Bunde. Der Insistenz, mit der Nancy in seiner philosophischen Anthropologie dem Berühren, der Haut nachspürte, entsprach die Konsequenz, mit der er als Zeitdiagnostiker nach den Kräften fragte, die in modernen Gesellschaften so etwas wie "communauté", Gemeinschaft, hervorbringen können. Auch das war ein Lebensthema. Durch den Zerfall des sozialistischen Staatensystems nach 1989/90 und den Niedergang des kommunistischen Sinnversprechens wurde es aktualisiert. Zum Selbstlob des "Westens" oder gar der Prognose, die liberale Demokratie sei ein unwiderstehliches Zukunftsmodell, bewahrte er deutliche Distanz. Auch hier war er an den inneren Paradoxien interessiert, an den Aporien des Umschlags etwa der Trennung von Kirche und Staat in Frankreich in eine Zivilreligion, die den säkularen Staat verklärt.
Das hinderte ihn aber nicht daran, Einspruch gegen den italienischen Philosophen Giorgio Agamben zu erheben, als der im Frühjahr 2020 in allen Anti-Corona-Präventionsmaßnahmen ausschließlich die illiberalen Effekte, die Einschränkungen der Freiheitsrechte durch den Staat, wahrnehmen wollte. Der Einspruch mochte damit zusammenhängen, dass Jean-Luc Nancy schon seit Jahrzehnten ein Mann war, der mit einem fremden Herzen lebte. Eines seiner eindringlichsten Bücher, "Der Eindringling" (2000), hat er über das Leben mit seinem transplantierten Herz geschrieben, von dem er, nachdem sein Körper es angenommen hatte, erfuhr, dass es von einer Frau stammte. Am Montag dieser Woche ist Jean-Luc Nancy im Alter von 81 Jahren in Straßburg gestorben.