Süddeutsche Zeitung

Jean Baudrillard:"Frankreich ist nur ein Land, Amerika ist ein Modell."

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Wie unüberbrückbar weit die Kluft zwischen französischen Intellektuellen und den amerikanischen derzeit ist, dokumentiert dieses Interview, das die Amerikanerin Deborah Solomon mit dem französischen Philosophen Jean Baudrillard geführt hat.

Für Baudrillard, nach dessen berühmter Theorie "die Bilder der Medien mächtiger und wirklicher geworden sind als die Wirklichkeit selbst", ist Freiheit, aber auch der Einmarsch in den Irak nichts als eine Maskerade, ein Spiel. Sicher spricht Solomon heute den meisten amerikanischen Intellektuellen - von denen nicht wenige vor Jahren ja den Pariser Intellektuellen mächtig nacheiferten - aus dem Herzen, wenn sie Baudrillards "Sophistik" nun "ermüdend" findet.

Deborah Solomon: Monsieur Baudrillard, können Sie als einer der gefeierten Philosophen Ihres Landes uns erklären, was die jungen Leute in der Banlieue gegen den Rest der Nation aufbringt?

Jean Baudrillard: Es wird noch viel, viel schlimmer werden. Lange gab es so etwas eine relativ friedliche Koexistenz oder besser Kohabitation, aber meine Landsleute haben nicht allzu viel unternommen, um die muslimische Bevölkerung zu integrieren - das rächt sich jetzt. Frankreich hat sich immer als Einheit begriffen, doch dieses naturgegebene Selbstverständnis zerbricht gerade.

Solomon: Vielleicht war das ja unvermeidlich. Viele amerikanische Beobachter hat es jedenfalls sehr überrascht, als die französische Regierung religiöse Symbole wie Kopftücher aus den öffentlichen Schulen verbannte.

Baudrillard: Ja, die USA verfügen über eine lange Geschichte der Einwanderung. Ihre Bevölkerung setzt sich aus verschiedenen Ethnien zusammen, und, obwohl diese miteinander konkurrieren, ist und bleibt Amerika Amerika. Selbst wenn keine Amerikaner in den USA leben würden, gäbe es immer noch Amerika. Frankreich ist nur ein Land, Amerika ist ein Modell.

Solomon: Würden Sie sagen, dass Amerika für das Ideal der Demokratie steht?

Baudrillard: Nein, sondern für die Simulation von Macht.

Solomon: Mit 76 Jahren vertreten Sie immer noch Ihre Theorie über Simulation und Simulacren, derzufolge die Bilder der Medien mächtiger und wirklicher geworden sind als die Wirklichkeit selbst.

Baudrillard: All unsere Werte sind nur Simulationen. Was bedeutet Freiheit? Dass wir die Wahl haben, das eine Auto zu kaufen oder das andere. Das ist eine Schein-Freiheit.

Solomon: Folglich glauben Sie nicht daran, dass die US-Regierung in den Irak einmarschiert ist, um ihn zu befreien?

Baudrillard: Was wir beabsichtigen, ist, den Rest der Welt auf dasselbe Niveau von Maskerade und Parodie zu hieven, auf dem wir uns bewegen, also den Rest der Welt in ein Konstrukt zu verwandeln, auf dass die ganze Welt vollkommen künstlich wird. Dann besitzen wir eine allumfassende Macht. Es ist eine Art Spiel.

Solomon: Wen meinen Sie mit "wir"?

Baudrillard: Frankreich ist ein Nebenprodukt der amerikanischen Kultur. Wir alle sind ein Teil davon; wir sind globalisiert. Wenn Jacques Chirac zum Irak-Krieg Nein sagt, ist das eine Täuschung. Es soll suggerieren, dass die Franzosen eine Ausnahme darstellen, aber es gibt keine französische Ausnahmestellung.

Solomon: Dass Frankreich sich dagegen entschieden hat, Truppen in den Irak zu entsenden, hat jedoch sehr konkrete Folgen für zahllose Soldaten, deren Familien und für den Staat.

Baudrillard: So ist es wohl. Wir sind "gegen" den Krieg, weil es nicht der unsere ist. Amerika hat auch keine Soldaten geschickt, als wir in Algerien Krieg führten. Frankreich und Amerika sind also auf derselben Seite. Es gibt nur eine Seite.

Solomon: Ist das nicht die Sorte von Sophistik, deretwegen französische Intellektuelle so ermüdend wirken?

Baudrillard: Es gibt keine französischen Intellektuellen mehr. Was Sie französische Intellektuelle nennen, wurde von der Mediengesellschaft verschlungen. Die Intellektuellen reden im Fernsehen und in den Zeitungen, aber sie reden nicht mehr miteinander.

Solomon: Glauben Sie, dass es in den USA Intellektuelle gibt?

Baudrillard: Susan Sontag und Noam Chomsky haben wir als solche wahrgenommen. Aber das ist nur Ausdruck des französischen Chauvinismus. Wir betrachteten sie als unseresgleichen. Wir schenken dem, was von außen kommt, keine Beachtung. Wir akzeptieren nur das, was wir erfunden haben.

Solomon: Waren Sie mit Susan Sontag befreundet?

Baudrillard: Wir sahen uns von Zeit zu Zeit, aber das letzte Zusammentreffen war eine Katastrophe. Sie kam zu einer Tagung in Toronto und griff mich an - ich hätte geleugnet, dass es so etwas wie Wirklichkeit gebe.

Solomon: Lesen Sie überhaupt Werke amerikanischer Autoren?

Baudrillard: Ich lese viele amerikanische Romanciers: Updike, Philip Roth, Truman Capote. Ich ziehe amerikanische Belletristik der französischen vor.

Solomon: Vielleicht ist die französische Literatur der französischen Theorie zum Opfer gefallen.

Baudrillard: Unglücklicherweise hat es die französische Literatur auch ohne Hilfe der Theorie geschafft, zu Tode zu kommen.

Solomon: Bei uns meinen manche, dass die Geisteswissenschaften an den amerikanischen Universitäten durch den Einfluss von Dekonstruktion und anderer französischer Theorien Schaden genommen haben.

Baudrillard: Das war das Geschenk der Franzosen. Sie haben den Amerikanern eine Sprache gegeben, die diese nicht brauchen. Das ist wie mit der Freiheitsstatue. Kein Mensch braucht französische Theorien.

(SZ vom 24. November 2005)

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