Jazzkolumne:Freie Radikale

Jazz: Joe Guidry

"Just because I have a dick doesn't mean I'm a man": sehr eindeutige Identitätspolitik von Joy Guidry.

(Foto: Shala Miller)

Herausragendes von Emile Parisién, Identitätspolitik von Joy Guidry und ein wieder aufgelegtes Meilensteinalbum von Jeanne Lee: die neuen Jazz-Alben.

Von Andrian Kreye

Es ist schon ein Verdienst des Bildungs- und Förderwesens in Europa und Amerika, dass sich das Handwerk in der Musik auf ein enormes Niveau entwickelt hat. Ausnahmemusiker gab es immer, aber die Qualität, die inzwischen auch in der zweiten und dritten Reihe Standard ist, hat nun auch dazu geführt, dass es nicht nur bei den traditionellen Instrumenten der ersten Reihe Stars gibt. Neue Stimmen rühren sich auch bei Instrumenten, die eher schwierig zu meistern sind im Jazz. Die gibt es bei der Harfe (Brandee Younger), der Tuba (Theon Cross) und dem Cello (Tomeka Reid). Aber auch bei den schwierigen Saxofonen, wie dem Alt (Immanuel Wilkins) und mit Emile Parisién beim problematischen Sopran, das meist als Zweitinstrument der großen Tenorspieler auftaucht.

Jazzkolumne: Emilie Parisién "Louise".

Emilie Parisién "Louise".

(Foto: ACT)

Emile Parisién war schon mit elf am Collège de jazz in Marciac, studiert dann am Konservatorium von Toulouse. Der hat jetzt ein Sextett zusammengestellt, mit dem er zeigen kann, was für eine Kraft man in das oft so schmale Klangbild seines Instruments legen kann. Mit dem hat er nun das Album "Louise" (Act) veröffentlicht, seine bisher stärkste und in dieser Saison überhaupt herausragende Platte. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er mit dem Trompeter Theo Croker einen Sparringspartner gefunden hat, der ihn fordert, an seine Grenzen zu gehen.

Von der titelgebenden Ballade über die dreiteilige "Memento"-Suite bis zum Teufelsritt "Jojo" stellt sich da eine Gruppe vor, die bei den im Sommer hoffentlich wieder stattfindenden Touren und Festivals ganz schön abräumen dürfte. Parisién und Croker bilden da über der Rhythmusgruppe und der sphärischen Gitarre von Manu Codija eine Front, in der sich die Solisten die Ideen zuspielen, als gelte es den Grand Slam zu gewinnen.

Auch Enrico Rava hat sein Quintett für sein neues Album "Edizione Speciale" (ECM) um einen Gitarristen erweitert. Rava zeigt sich bei der Live-Aufnahme von seiner abenteuerlichen Seite. Francesco Diodati wagt sich da mit seiner Gitarre vom Splitter-Solo bis zum elektronischen Noise weit vor, um dann gemeinsam mit der Gruppe zur absoluten Harmonie zurück zu finden. Und wenn man das frenetische Publikum und die Zwischenrufe der Musiker richtig deutet, war der Abend in Antwerpen für alle Beteiligen ein Befreiungsmoment.

Immer wieder greifen sowohl Parisién, als auch Rava auf die kantigen Linien zurück, mit denen Ornette Coleman und seine Wegbegleiter in den Sechzigerjahren den Post Bop aufbrachen. Dieser Schritt von der Moderne zur freien Musik wird manchmal etwas unterschätzt. Blue Note hat nun begonnen in seinen Wiederveröffentlichungen seine Rolle in dieser Übergangszeit aufzuarbeiten. Jackie McLeans "Destination... Out!" ist gerade wieder erschienen. Schon die Zusammenstellung des Quintetts, bei dem Bobby Hutchersons Vibrafon das Klavier und Grachan Moncour III's Posaune die Trompeter ersetzen, sorgt für ein Klangbild, das die Aufbruchsstimmung jener Zeit, in der der Jazz den abstrakten Impressionismus der Malerei als Leitstern entdeckte, kongenial wiedergibt.

Jazzkolumne: Don Cherry "Where Is Brooklyn?"

Don Cherry "Where Is Brooklyn?"

(Foto: Blue Note)

Noch einen Schritt weiter ging Coleman-Partner Don Cherry auf seinem Album "Where is Brooklyn". Das ist nicht zuletzt Pharoah Sanders' Verdienst, der schon als Sideman von Coltrane und Coleman noch weiter über die Grenzen hinausging, als seine Mentoren. Während Cherry mit enormer Virtuosität die meisten Regeln der Harmonielehre außer Kraft setzt, holt Sanders aus seinem Tenorsaxofon Klänge, die damals noch unerhört waren.

Beide gingen in den folgenden Jahren auf eine musikalische Suche, mit der sie in den entferntesten Ecken der Weltkultur landeten. Dass Don Cherry aber ein Gespür für Funk und Rock hatte, ist kaum bekannt. Was die Neuauflage seines Albums "Hear & Now" (Wounded Bi) so interessant macht. Da spielte er 1976 mit Musikern wie dem Saxofonisten Michael Brecker, dem Bassisten Marcus Miller und dem Schlagzeuger Lenny White, die den Jazzrock damals in Reinform perfektionierten. Mit Cherry wird diese oft so polierte Form zu einer ungestümen Feier, die zwischen Monumentalakkorden, Funkbasslinien und indischen Einflüssen einen Mittelweg fand, die Cherry's Heißhunger auf die Weltmusik einem breiten Publikum eröffnete.

Jazzkolumne: Jeanne Lee "Conspiracy"

Jeanne Lee "Conspiracy"

(Foto: moved-by-sound)

Free Jazz bleibt ansonsten bei den Neuaufnahmen und Wiederveröffentlichungen ein sehr kleines Randgebiet. Was für ein Glücksfall, dass sich moved-by-sound die Mühe gemacht hat, das Meilensteinalbum "Conspiracy" der Sängerin und Dichterin Jeanne Lee neu aufzulegen. Was Lee 1974 gemeinsam mit Sam Rivers, ihrem Lebens- und Musikgefährten Gunter Hampel und Musikern aus Hampels Birth-Records-Umfeld aufnahm, war ein Ereignis, das musikalisch wie literarisch einen Einblick in eine Zeit gab, in der die Rebellion für kurze Zeit ein Dauerzustand der Hoffnung war-

Die freie Musik, die Don Cherry und Jeanne Lee damals in immer neue Gefilde führten, hat heute einen schweren Stand. Umso befreiender ist es da, wenn sich junge Musiker wie das Duo Binker & Moses auf die Spur der absoluten Freiheit machen. Der Saxofonist und der Schlagzeuger finden auf ihrem neuen Album "Feeding the Machine" (V2) durch ein Labyrinth der Hallmaschinen auf den Weg in den Kosmos der absoluten Freiheit. Der bei den beiden immer in einem Rhythmusverständnis wurzelt, der sie bei einer Generation zur Sensation der Londoner Clubs gemacht hat, für die solche Befreiungsschläge so neu sind, wie für die New Yorker der Sechzigerjahre.

Jazzkolumne: Otis Sandsjö und Niklas Wandt "Compagni di Merende"

Otis Sandsjö und Niklas Wandt "Compagni di Merende"

(Foto: Kryptox)

Auch in Berlin hat sich so ein Duo zusammengefunden. Dort hat der DJ und Schlagzeuger Niklas Wandt mit dem schwedischen Saxofonisten Otis Sandsjö das Album "Compagni di Merende" (Kryptox) eingespielt. Die beiden bewegen sich auf Pfaden der absoluten Freiheit. Dabei sind sie sich so einig, hören sich gegenseitig so kongenial zu, dass der Dialog eine Intensität erreicht, der selbst auf Platte noch die Wirkung zeigt, die der Free Jazz sonst nur Live entwickelt.

Jazzkolumne: Joy Guidry "Radical Acceptance"

Joy Guidry "Radical Acceptance"

(Foto: Whited Sepulchre Records)

Wie sehr sich die Zeiten seit Jeanne Lees Aufnahme verfinstert haben, hört man auf dem Album des New Yorker Komponisten, Dichters und Fagott-Spielers Joy Guidry. Der hat aus seinem Album "Radical Acceptance" (Whited Sepulchre Records) ein Pamphlet der Identitätspolitik gemacht. Die beginnt mit dem Text "Just because I have a dick doesn't mean I'm a man". Der Titel erklärt sich von selbst, aber die Klarheit, mit der er die Identitätsfrage auseinandernimmt, die sich bei ihm - wie er selbst sagt - als fettem, schwarzen, transsexuellen Schwulen gleich auf vier Ebenen stellt, ist beeindruckend. Ähnlich mehrdimensional mäandert das Album in Folge zwischen Drone-Wänden aus Elektronik und Percussion, Ausbrüchen auf dem Fagott, die durchaus an Pharoah Sanders erinnern, und "found object"-Sounds. Ob das noch Free Jazz, schon zeitgenössische Musik oder sogar Klangperformance ist, bleibt dann auch egal. "Radical Acceptance" ist eines der stärksten Statements, die die freie Musik in letzter Zeit gemacht hat.

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