Süddeutsche Zeitung

Jazzkolumne:Hinter dem Beat

Erroll Garner war ein Meister darin, den Rhythmus zu verschleppen. Er war aber auch ein Vorkämpfer für die Rechte von Musikern.

Von Andrian Kreye

Weil das Geld in der Musik gerade ein sehr viel drängenderes Thema ist als die Kunst (kurzer Doomscroll: Corona, Streaming, Urheberrechte), sei eines der vielen Jubiläen kurz neu gewichtet. Am 15. Juni jährt sich der Geburtstag des Pianisten Erroll Garner zum 100. Mal. Garner wurde mit seinem Stück "Misty" 1954 zum Superstar (das 1971 den Titel und das Leitmotiv für Clint Eastwoods Regiedebüt lieferte). Sein "Concert by the Sea" von 1955 war eine der ersten Jazzplatten, die sich eine Million Mal verkaufte. Erroll Garner war aber vor allem der erste Musiker, der erst seinen Musikverlag und dann seine Plattenfirma verklagte.

Als er auf dem Höhepunkt seines Erfolges den Vertrag mit Columbia verlängerte, handelte er gemeinsam mit seiner Managerin Martha Glaser ein Mitspracherecht darüber aus, was von ihm veröffentlicht würde. Columbia vergaß das ein paar Jahre später und brachte das Album "Swingin' Solos" heraus, auf dem ein paar alte Aufnahmen waren, die Garner selbst für Mittelmaß hielt. Also schrieb er erst einmal ein saftiges Telegramm an den Produzenten John Hammond: "Glauben Sie, dass Sie mich einsacken können, weil ich ein schwarzer Künstler bin?" Dann schickte er seine Anwälte los.

Drei Jahre lang dauerte der Rechtsstreit. Garner und Glaser hatten da schon Erfahrung. Zuvor hatten sie die Rechte an "Misty" von einem dubiosen Musikverlag zurückgeklagt. Columbia ging bis vor den New York Supreme Court und veröffentlichte in der Zeit noch zwei weitere Alben gegen den Willen Garners. Schließlich bekamen er und Glaser nicht nur recht, sondern auch mehr als 260 000 Dollar. Einen Großteil des Geldes steckten sie in Garners eigenes Plattenlabel Octave, mit dem er sich endgültig von der Macht der großen Plattenfirmen befreite.

Im Vorlauf zum Jubiläum sind in den vergangenen zwei Jahren alle zwölf Octave-Alben neu gemastert worden. Ein paar Experimente sind dabei. Mit E-Bass, Orgel und Pop auf "Magician", mit großem Filmorchester auf dem Soundtrack zum Film "A New Kind of Love" und mit Blechbläsern auf "Up in Erroll's Room" - obwohl die reinen Trio-Aufnahmen eben doch seine besten bleiben. Was auch an jenem Rhythmusgefühl lag, das ihn so einzigartig machte. Auf "A Night at the Movies" hört man das besonders gut. Er interpretiert darauf unbekannte Filmmusik. Auch auf dem "Campus Concert" scheint seine große Gabe durch. 1966 versuchte er damit, ohne Zugeständnisse an die damalige Gegenwart, Studenten zu erreichen - das frische Massenpublikum für neue Musik wie Folk und Rock. Da hört man ganz genau, was sein anderes Vermächtnis ist, das mindestens so wichtig ist.

Mit der linken Hand setzte Garner zwar seine mächtigen Blockakkorde präzise auf den Beat. Mit der rechten Hand aber spielte er "behind the beat", also hinter dem Taktschlag. Das ist eine verflixt schwere Spielweise, bei der die Töne so knapp hinter ihren eigentlichen Platz im Takt gesetzt werden, dass beim Zuhören dieser Spannungseffekt entsteht, weil man die ganze Zeit darauf wartet, wann denn jetzt wieder was passiert. Das machte den Groove der Garner-Platten so unwiderstehlich. Nur sehr wenige beherrschen das.

Im Jazz waren das unter anderen Dexter Gordon und Lee Morgan. Die Kunst ist dabei, den Rhythmus so gekonnt schleifen zu lassen und wieder einzufangen, dass es nicht wie ein Versehen klingt, sondern eben diese unfassbare Lässigkeit erzeugt. Das war auch einer der Gründe, warum Lee Morgans Album "Sidewinder" (auf Blue Note gerade neu aufpoliert erschienen) 1965 in die Top 40 der Pop-Charts kam. Oder warum Dexter Gordons "Go" (kommt im Juli mal wieder neu raus) so eine Meilensteinplatte ist.

Es gibt durchaus andere, die damit umgehen konnten und können. Frank Sinatra war ein Meister darin, ganze Orchester mit dieser Methode unter Strom zu setzen. Carlos Santana erzeugte damit Intensität und Eric Clapton erklärten sie dafür zu Gott. Jimi Hendrix erschien damit selbst in Momenten der Ekstase lässig. Und wer in einer Band schon mal versucht hat, die vermeintlich schlichten Stücke von AC/DC nachzuspielen und sich wunderte, warum das nie so klappte, hat das Schlagzeugspiel von Phil Rudd unterschätzt. Machen ihm nur wenige nach.

Nicht alle "behind the beat"-Meister wurden Stars. Der Pianist John Wright zum Beispiel spielte den Blues auf seinem Album "South Side Soul" mit einem unfassbar verschleppten Zeitgefühl, ohne jemals aus dem Groove zu fallen. Er schiebt ihn im Gegenteil ja sogar enorm an damit. Das Original kostet auf dem Sammlermarkt um die 300 Euro, aber das spanische Label Jazz Workshop hat die Platte gerade neu aufgelegt. Mit etwas Glück findet man sie auch auf einer CD-Sammlung von Fresh Sound. Es ist jedenfalls schon fast eine Zen-Übung, auf die Akzente zu warten, die der damals 26-Jährige in die Walking-Wellen setzt, die Bass und Schlagzeug durchrollen lassen. Die perfekte Fortsetzung des "Concert by the Sea". Auch wenn's kaum einer kennt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5308957
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.