Jazzkolumne:Großen Musikern beim Denken zuhören

Spaces Jazzquartett

Vollkommen freie Improvisation, ohne einander zu hören oder zu sehen: das Jazzquartett "Spaces".

(Foto: Schoener Hören/Schoener Hören)

Das Quartett "Spaces" hat ein Album eingespielt, ohne sich dabei zu treffen. Auch nicht virtuell. Über die Regeln des Free Jazz - und wie man sie damals und heute bricht.

Von Andrian Kreye

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Es gibt kaum eine Kunstform, in der es so wenige Regeln und Konventionen gibt wie beim Free Jazz. Was das Album "Together Alone" (Schoener Hören) der Gruppe Spaces aus Hannover so interessant macht, weil die vier es schaffen, doch noch welche zu schleifen. Die Idee war eine der vielen, die aus der Not der Pandemie heraus entstanden, und die hoffentlich bald wieder aus der Zeit fallen. Aber die Bedingungen der Aufnahme stellen ein paar interessante Fragen. Die vier trafen sich nämlich nicht in einem Studio - und noch nicht einmal im Stream. Punkt 19 Uhr begannen sie ihre Aufnahmen in ihren jeweiligen Lockdown-Behausungen mit einem vorher abgesprochenen Ton. Nur die Längen der Improvisationen waren festgelegt. Ansonsten verweigerten sie sich dem Kern des Free Jazz, der aus dieser Musik schon früh ein so grundlegendes Experiment der vernetzten Kommunikation machte: dem gegenseitigen Zuhören. Sie konnten sich nicht einmal sehen.

Bevor man das Ergebnis nun bewertet, sollte man vielleicht das Label Free Jazz infrage stellen, weil das Album keineswegs die Klischees der Avantgarde bedient, die der Pionier dieser Musik, Gunter Hampel, mal mit dem Satz beschrieb: "Irgendwann ging es nur noch darum, wer am lautesten war."

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Mit dem Free Jazz war das bisher wie mit Käse und Wein. Erst mussten sich die Geschmacksnerven daran gewöhnen, aber über die Jahre wurde es immer aufregender, auch noch die feinsten Nuancen zu erkennen. Eine neue Generation Musiker räumt nun mit den alten Vorurteilen auf, zum Beispiel, dass sich da Musiker austoben, die auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Der Londoner Saxofonist Binker Golding hat beispielsweise gerade das Album "Moon Day" (Byrd Out) mit dem Schlagzeuger Steve Noble und dem Bassisten John Edwards aufgenommen, beide zwanzig Jahre älter und Veteranen aus dem Umfeld des britischen Free-Jazz-Titanen Evan Parker. Was die drei über die gute Stunde hinweg finden, zeigt, warum die absolute Freiheit wieder so verlockend ist. Man kann hier drei wirklich großen Musikern beim Denken zuhören. Nicht beim Nachdenken, sondern bei diesem intuitiven Fluss, den nur wenige Musiker erzeugen können.

Golding entdeckt die freie Musik nicht erst jetzt. Gemeinsam mit seinem noch jüngeren Weggefährten, dem Schlagzeug Moses Boyd, hatte er sich bei Loft- und Club-Konzerten vor einigen Jahren auf die Spur des späten John Coltrane begeben. Auf die von dessen Album "Interstellar Space", um genau zu sein, auf dem der Titan mit dem Schlagzeuger über vier LP-Seiten hinweg im Duo über Mars, Venus, Jupiter und Saturn improvisiert, um dann im Sternzeichentitel "Leo" ein letztgültiges Riff für die freie Musik zu finden. Auch "Moon Day" steht im Schatten (oder im Licht?), jedenfalls deutlich im Zeichen jener späten Coltrane-Jahre, von denen sich damals noch viele Fans und seine Musiker abwandten. Für Binker Golding und viele seiner Generation ist aber genau das die Blaupause für die eigenen Befreiungsschläge. Und man muss ihm lassen, dass er im Zusammenspiel mit den sehr viel erfahreneren Älteren eine Stimme auf Tenor- und Sopransaxofon findet, die für sich stehen kann. Was durchaus Bewunderung abverlangt, denn das Zuhören lässt sich kaum lernen, sondern nur mit Erfahrung bilden.

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Veteranen und Titanen spielen überhaupt eine große Rolle bei der Neuentdeckung der freien Improvisation. Evan Parker ist einer der Helden. Die Natural Information Society aus Chicago hat ihn für ihr neues Album "descension (Out of Our Constrictions)" (Eremite) ins Studio geholt. Evans ist vor allem dafür bekannt, mit Zirkularatmung endlose Tonschleifen zu konstruieren, die den Sog seiner Musik physisch spürbar machen. Das passt perfekt zu ihrem "ecstatic minimalism", einer Bereitschaft, Motive bis zur Trance auszudehnen. So holen sie, wie so viele Gruppen in Chicago derzeit (Rob Mazureks Exploding Star Orchestra zum Beispiel, die Formationen von Angel Bat Dawid und Makaya McCraven), die lange Geschichte der freien Musik ihrer Stadt in die Gegenwart.

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Ein anderer omnipräsenter Held ist der Saxofonist und Trompeter Joe McPhee. Dessen "Nation Time"-Album war 1970 ein Meilenstein einer neuen afroamerikanischen Avantgarde, die sich weder an die Dogmen der Bilderstürmer noch der Modernisten hielten. McPhee taucht auf einer ganzen Menge aktueller Alben auf und verleiht ihnen eine Art Prädikatssiegel. Wie auf "Winter Garden" (ESP), dem neuen Album des Flow Trio. Das beschwört den Geist Albert Aylers mit inbrünstigen Shouts der Saxofone über einer entfesselten Rhythmusgruppe. Das ist eine erstaunliche Ladung Energie, auch wenn es von all den Alben in dieser Kolumne am ehesten den Konventionen des Free Jazz entspricht. Mit dem Saxofonisten Michael Marcus hat McPhee aber das Blue Reality Quartet gegründet. Das spielt über den silbrigen Vibrafon- und Perkussionsteppichen von Jay Rosen und Warren Smith eine Musik, die sehr viel gelassener in sich ruht. Das selbstbetitelte Album kommt im Juli (Mahakala), aber schon die Vorab-Single "Love Exists Everywhere" lässt ahnen, dass freie Improvisation immer noch neue Wege findet, und die gar nicht so fordernd sind wie in den Sturm-und-Drang-Sechzigerjahren.

Und Spaces? Haben ein in sich überraschend stimmiges Album abgeliefert. Die Beherrschtheit, mit der Andreas Burckhardt am Saxofon, Eike Wulfmeier am Klavier, Clara Däubler am Bass und Willi Hanne am Schlagzeug eine harmonische Gemeinsamkeit entwickeln, könnte nahelegen, dass freie Musik beliebig ist. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass die vier so perfekt aufeinander eingespielt sind, dass sie auch in der vollkommenen Freiheit des Alleinseins Gemeinsamkeit entwickeln können. Durchaus ein Höhepunkt der freien Musik.

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