Süddeutsche Zeitung

Jazzkolumne:1959 vs. 2019

Lesezeit: 3 min

Vor sechzig Jahren wurden in Manhattan fünf Alben aufgenommen, an denen sich der Modern Jazz bis heute misst. Wie gehen die heutigen Jazzer mit diesem Erbe um?

Von Andrian Kreye

Es ist so ungerecht wie unvermeidlich, dass sich der Modern Jazz seit nun schon sechzig Jahren am Werk einer Handvoll New Yorker Musiker aus dem Frühjahr und Sommer von 1959 messen lassen muss. Und weil sich die Veröffentlichungsdaten der fünf Alben, die den Modern Jazz definierten, in diesem Herbst und Winter ebenfalls jähren, kann man ja auch mal offensiv zurückblicken.

Da war also "Kind of Blue" des Miles Davis Sextetts, das meistverkaufte Jazzalbum aller Zeiten, das die Tiefe der Melancholie so letztgültig auslotete, dass es bis heute für viele der Einstieg in den Jazz ist. Charles Mingus kanalisierte auf "Ah Um" die brachiale Kraft des Blues in fast schon orchestrale Musik und brachte die Grundlagen der Komposition im Jazz auf ein neues Plateau. John Coltrane reizte auf "Giant Steps" die Höchstgeschwindigkeit aus, die der menschliche Geist in der Improvisation erreichen kann. Dave Brubecks "Time Out" baute mit seinen ungeraden Metren die Brücke von den Blockakkorden des frühen Jazz in das Kulturverständnis der traditionellen Bildungsbürgertums. Und dann war da noch das prophetische "The Shape of Jazz to Come"-Album des Ornette Coleman Quartetts, das den Aufbruch in die absolute Freiheit markierte.

Das sind bis heute fünf Alben für die Einsame-Insel-Listen. In der Biologie nennt man solche gleichzeitigen Entwicklungen konvergente Evolution. Ähnliches hatte es in der Musik zuvor höchstens in der Wiener Klassik gegeben. Man würde das gerne historische verorten, immerhin war die Bürgerrechts-Ära 1959 schon in vollem Gange. Allerdings entstand diese Musik nicht wegen, sondern trotz der gesellschaftlichen Entwicklungen.

Als Miles Davis gegen Ende seines zweiwöchigen Engagements zur Veröffentlichung von "Kind of Blue" vor dem New Yorker Club Birdland eine Zigarettenpause machte, schnauzte ihn ein weißer Polizist an, er solle sich schleichen. Als Davis sagte, dass er hier arbeite und sein Name auf der Markise stünde, gab es Prügel und eine Verhaftung, von der er noch Jahrzehnte später sagte, dass sie sein Leben verändert habe.

Man kann die Konvergenz der fünf Alben deswegen wohl doch nur musikhistorisch einordnen. Weil sie in diesem Jahr aber Neuland erschlossen, bleibt der Vergleich für alle Nachkommenden so ungerecht. Es sei denn, man vergleicht sie nicht mit Mozart, Beethoven und Haydn, sondern mit Archimedes und Pythagoras. Es gibt nun sechzig Jahre später nämlich durchaus eine ähnliche konvergente Evolution des Jazz, nur dass sie sich nicht auf der Insel Manhattan vollzieht, sondern auf der ganzen Welt. Es gibt da weniger musikalisches Neuland zu erobern als eine Transzendenz des Jazz auf der Grundlage einer viel längeren Geschichte, die mit dem Wendepunkt von 1959 begann.

Drei von vielen aktuellen Orten: Israel, London, Deutschland. Die direkteste Linie zu Miles Davis zieht sicherlich der Trompeter Avishai Cohen aus Tel Aviv, der wie so viele Musiker seines Landes in New York den Durchbruch schaffte. Auf seinem neuen Duo-Album "Playing the Room" (ECM) mit seinem Jugendfreund, dem Pianisten Yonathan Avishai, zeigt er noch reinerer Form als auf seinen bisherigen Alben, wie man nur mit dem Ton der Trompete eine Emotionalität erzeugt, die sehr tief greift.

Der Ort, der dem New York von 1959 am deutlichsten ähnelt, ist derzeit London. Die Flut der großartigen Alben von dort reißt nicht ab. Wie dicht die Szene dort ist und welche Gemeinsamkeiten sie in ihrem radikalen Pluralismus findet, kann man auf dem Album "Untitled (18 Artists)" (Vinyl Factory) nachhören. Da haben sich Leute wie Shabaka Hutchings, Nubya Garcia und Joe Armon-Jones mangels stilistischer Gemeinsamkeiten von den Arbeiten des Malers Jean-Michel Basquiat inspirieren lassen, um über diesen Umweg auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, der zwischen Jazz, Fusion, Club Grooves und Hip-Hop ein kraftvolles Schlaglicht auf London jetzt in diesem Augenblick wirft.

Wobei man beim notorischen Blick ins Ausland Deutschland nicht vergessen darf. Die Jazzrausch Big Band ist sicher das Zugpferd eines Jazz junger Musiker, die mit Club und Techno aufgewachsen sind. Zwei Alben hat sie in den letzten Monaten veröffentlicht, "Moebius Strip" (Kryptox) und "Dancing Wittgenstein" (Act), die beide ahnen lassen, welche Wucht live in der Gruppe steckt, die gerade eine gefeierte China-Tour hinter sich brachte. Aber sie ist eben nur eine von vielen - ein Querschnitt wird Anfang November auf dem sehr gelungenen "Kraut Jazz Futurism"-Sampler des neuen Jazzlabels Kryptox erscheinen. Zwei Singles gibt es schon. Musikalisch bahnbrechend wie 1959 mag das alles nicht sein. Aber es bringt die Grundlagen von damals äußerst lebendig in die Gegenwart.

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Quelle:
SZ vom 24.09.2019
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