Jazzfest Berlin:Kirche, Sklaverei und Funk

Jazz ist heute so offen, dass er sich mit jedem musikalischen Thema auseinandersetzen kann. Bei den Höhepunkten des Jazzfests Berlin liefern US-Musiker Antworten auf Fragen der schwarzen Identität.

Christian Broecking

Der Kirche sei Dank - Lizz Wright hat eine Erklärung für das Phänomen parat, dem sich das Jazzfest Berlin dieses Jahr in verschiedenen Konzerten und Schwerpunkten widmete. Jazz ist heute so offen, dass er sich mit jedem musikalischen Thema auseinandersetzen kann. Ideologischen Ballast erledigt Wright beispielsweise mit ihrer Gospelstimme, die sie in der Südstaatenkirche ihres Vaters geschult hat, und dem Freiheitsbegriff, der sich im Jazz über Jahrzehnte geformt hat. Was Wright da formuliert, war ein Subtext, der sich durch das gesamte Festival zog. Und der vor allem die amerikanischen Musiker prägte.

Lizz Wright

Lizz Wright erzählt von ihrer langen Suche nach sich selbst und ihrem Ausdruck.

(Foto: Universal Music Group)

Generationen von Jazzmusikern haben gegen die rassistischen Untertöne bei der Kategorisierung und Vermarktung ihrer Musik gekämpft. Lizz Wright muss das nicht mehr. Im Gespräch hinter der Bühne berichtet die 31-jährige Wright von den Debatten, die die Jazzmusiker im vergangenen Jahrzehnt unter sich ausfochten. Die Protestgeste aus den sechziger und siebziger Jahren gilt als überholt. Genauso wie der Ruf der schwarzen Neotraditionalisten aus New Orleans nach Disziplin, Historisierung und schwarzem Stolz keine Antworten lieferte.

Doch die Spuren von Resignation und Rückzug, die den Jazz so lähmten, seien einer Neuorientierung gewichen. Eine neue künstlerische Haltung hat sich im langen Schatten der Bush-Ära ausgeprägt, die jetzt umso selbstbewusster auf die Festivalbühnen drängt.

Anders als ihre Vorbilder Billie Holiday, Nina Simone und Abbey Lincoln musste Lizz Wright nicht mehr den schweren Weg gehen, der durch weißen Rassismus und schwarzen Männlichkeitswahn geprägt war. Sie erzählt von ihrem Leben im Süden der USA, von ihrem Rückzug ins Private. Sie schwärmt von der Dorfstruktur, in der das Handwerk noch etwas zählt. 80 Prozent der Lebensmittel ihres täglichen Bedarfs baut sie im eigenen Garten an.

Ihre lange Suche nach Identität hat nun einen Punkt erreicht, an dem sie ganz bei sich selbst angekommen ist und so ihren eigenen Ausdruck finden kann. Sie erzählt in ihren Songs universelle Geschichten von Liebe, Scheitern und Hoffnung. Den Gospel "Walk With Me, Lord" interpretiert sie, wie sie es in der Kirche gelernt hat: als ihren eigenen, persönlichen Song. Wofür bei Nina Simone der Gitarrist Rudy Stevenson zuständig war, damit glänzt bei Wright der Gitarrist Marvin Sewell.

Er bilanziert den Blues, verzerrt musikalische Vertrautheit und vertieft Dialoge, so wie er es in der Band der Sängerin Cassandra Wilson gelernt hat. Selbst wenn sie Wright-Rock-Klassiker wie Neil Youngs "Old Man" oder Led Zeppelins "Thank You" singt, macht sie sich so die erst einmal fremde Musik zu eigen. "Wer es nicht schafft, dasselbe Stück immer und immer wieder zu variieren, muss zurück in den Chor", sagt sie.

Sklaverei als musikalisches Thema

Auch Joe Sample hat seine private Identitätsfindung musikalisch verarbeitet und seine Wurzeln in der Kirche entdeckt. In den Zwischenmoderationen zu seinem Kompositionszyklus "Children of the Sun" berichtet der Pianist, der einst bei Marvin Gaye am Klavier saß und später für seine Band Crusaders "Street Life" komponierte, von einer überwältigenden Erfahrung. Auf der Karibikinsel St. Croix habe er Mitte der neunziger Jahre den Entschluss gefasst, sich mit die Geschichte der Sklaverei musikalisch auseinanderzusetzen.

Joe Sample

Eines der Highlights am Samstagabend: Joe Sample, der sich in seiner Musik mit der Sklaverei auseinandersetzt.

Der gebürtige Texaner wuchs in Segregation auf. Den ersten Weißen lernte er erst als Neunzehnjähriger kennen. Jahrzehnte später stand in den Schulbüchern seiner Heimat immer noch, dass Schwarze nicht schlau genug seien, um es mit Weißen aufnehmen zu können.

Children of the Sun" wurden in St. Croix die Kinder der Sklaven genannt, und als Sample das Stück komponierte, hatte er erwartet, ein lebhaftes Stück mit karibischen Rhythmen zu schreiben. Doch alles, was er in sich hörte und fühlte, war der Blues. Das "Moanin'", jenes klagende Element im Gospel und Blues, habe seinen Ursprung in der spirituellen Musik Westafrikas, die die Sklaven mitgebracht haben, referiert Sample im Gespräch nach dem Konzert.

Moanin'" komme aus der Kirche, dessen weltliche Form sei der Blues. Sample wuchs zwar in einer ländlichen Gegend auf, doch wenn er voller Stolz auf seine "Großstadtmentalität" zu sprechen kommt, wird schnell klar, weshalb sein Groove so selbstbewusst und eigen klingt. Er habe nicht sein Leben lang Boogie Woogie spielen wollen, also überzeugte er seine Mutter, Klavierunterricht zu bekommen, bei dem er auch Bach und Beethoven studieren konnte.

Lange hat Sample gebraucht, "Children of the Sun" zu realisieren. Mit Hilfe des scheidenden Jazzfestleiters und Posaunisten Nils Landgren sowie der NDR-Bigband gelang ihm das auf eine Weise, die selbst die überzeugt, die großformatigem Jazz eher abgeneigt sind.

Und noch ein weiteres Glanzlicht des großen Samstagabendkonzerts hatte afroamerikanische Identitätsfindung zum Thema. Auch hier, im Falle des New Yorker Sängers Gregory Porter, der bei seinem ersten Berlin-Konzert sein vielbeachtetes Debütalbum "Water" vorstellte, ging es um jüngere schwarze Geschichte. Begleitet von einem Trio um den großartigen Pianisten Chip Crawford singt Porter eigene Texte über den Dichter der Harlem Renaissance, Langston Hughes, und über soziale Aufstände in Motown, der einstigen Autostadt Detroit, während der sechziger Jahre.

Im Unterschied zu Wright hat sich Porter musikalisch konsequent einem traditionalistischen Jazz-Idiom verschrieben. Auch bei Porter ist die schwarze Kirche der Ausgangspunkt musikalischer Erfahrung und Inspiration. Wenn diese Sänger und Musiker von Spiritualität sprechen, geht es um Vergewisserung: Einer "höheren Macht" zu dienen, symbolisiert nicht nur einen Akt der Befreiung, sondern adressiert zugleich ein spirituelles Ziel des künstlerischen Ausdrucks. Wenn diese Künstler sich nicht mehr auf tagespolitische Diskussionen einlassen wollen, hat das mit einer Perspektive zu tun, in der die kulturell übergreifende Qualität der Musik die Chance birgt, neue Ausdruckformen zu generieren.

Meditation, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit

Hypnotic Brass Ensemble

Das "Hypnotic Brass Ensemble" spielt Blasmusik-Funk in einer mitreißenden Performance voller Straßenkampf-Animation und Party-Groove.

(Foto: Georgia Kuhn)

Auf einer der beiden Clubbühnen des Festivals, spät am Abend, zog dann das "Hypnotic Brass Ensemble" das Publikum in seinen programmatischen Bann. Das Ensemble besteht aus acht Söhnen des afroamerikanischen Trompeters und Aktivisten Phil Cohran, der die einflussreiche schwarze Chicagoer Musikerselbsthilfeorganisation AACM Mitte der sechziger Jahre in seinem Wohnzimmer gründete. Sie spielen Blasmusik-Funk in einer mitreißenden Performance voller Straßenkampf-Animation und Party-Groove.

Die Brüder sind heute zwischen 24 und 35 Jahre alt. Zusammen mit sieben weiteren Geschwistern, zwei Müttern und dem gemeinsamen Vater wuchsen sie an der South Side Chicagos auf. Arbeitsteilig wurden sie von den Eltern musikalisch ausgebildet. Die gemeinsamen Proben begannen bereits vor der Schule morgens um fünf und wurden nach den Hausaufgaben fortgesetzt. Im Gespräch vor dem Konzert geben sich die Brüder auskunftsfreudig, lebhaft und geschäftsbewusst - immer wieder wird die Lebensphilosophie des Vaters zitiert. Von Meditation ist die Rede, von unbedingter Selbstbestimmung und grundlegender Unabhängigkeit.

Dass sich endlich keine Kreise mehr schließen, sondern eine radikale Offenheit besteht, wird beim Konzert des legendären Saxophonisten Charles Lloyd deutlich. Seine hymnisch ausgestaltete Begegnung mit der großen Mikis-Theodorakis-Interpretin Maria Farantouri ist zutiefst berührend. Das liegt nicht zuletzt an der herausragend besetzten Band um den derzeit wichtigsten Pianisten der jüngeren amerikanischen Szene, Jason Moran. Eine Musik entsteht, die extreme Nähe produziert.

Und wieder spielte die Kirche eine entscheidende Rolle - Lloyds Großvater baute für seine Frau einst eine schwarze Südstaaten-Kirche. Lloyd erinnert sich, als kleiner Junge Angst gehabt zu haben, zwischen den ekstatisch geschüttelten Körpern kräftiger Tanten erdrückt zu werden.

Der Amerika-Schwerpunkt wird dann auf der großen Jazzfest-Bühne vom Quintett des Bassisten Steve Swallow mit seiner Verbündeten, Wahlverwandten und Lebensgefährtin Carla Bley an der Orgel beschlossen. Er hat die scheue Grande Dame der großorchestralen Jazzavantgarde in einen kammermusikalischen Aufbau gelotst, und sie nach jahrzehntelanger Verweigerung noch einmal überreden können, an die Hammond B3 zurückzukehren.

Tatsächlich klingt Carla Bleys Spiel äußerst fragil. Swallow schwärmt von ihrem "Anti-Jimmy-Smith"-Klang und spricht von ihrer Einzigartigkeit. Bley durchstreift dann eine Tradition, die auch sie in der Kirche verortet. In ihrem Fall in einer weißen Kirche im kalifornischen Oakland, auf deren Hammondorgel sie als junges Mädchen spielte. Bei Begräbnissen habe sie dafür fünf Dollar, bei Hochzeiten zehn erhalten. Die 75-jährige Künstlerin sagt, dass sie ihr Orgelspiel seitdem nicht verändert habe. Es fühle sich für sie heute noch genauso wie damals in ihrer Kirche an.

Während die weltweit beachtete Hauptstadtszene derweil mit einer Online-Petition, die bereits von 1800 Musikern und Aktivisten unterzeichnet wurde, auf ihre zunehmend prekäre Lage aufmerksam macht und nun auch noch die magere Jazzförderung des Senats zur Disposition gestellt wähnt, tut es der europäischen Hauptstadt des Jazz einstweilen gut, ein Festival zu haben, das vom Bund finanziert wird. Nils Landgren wurde bei seinem letzten Berliner Festivaljahrgang vom Publikum des stets ausverkauften Festspielhauses zu Recht gefeiert. Das fünftägige Festival war ein enormer Erfolg. Fast alle Konzerte waren ausverkauft. Mehr als 8000 Zuhörer kamen.

Nils Landgren hat seine Arbeit als Leiter des Jazzfestes nun zwar beendet. Doch er hat der Musik und den Musikern in den vergangenen vier Jahren einen großen Dienst erwiesen.

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