Süddeutsche Zeitung

Jazz:Vom Gewicht leiser Töne

Jazz ist nur ein Vehikel und keine Form. Die Tenorsaxofonistin Nubya Garcia legt gerade mit "Source" ein unglaubliches Debütalbum vor. Live-Auftritte fielen dem Seuchensommer zum Opfer. Gründe genug, sie persönlich in London zu treffen.

Von Andrian Kreye

Kein Album hat den Unterschied zwischen dem Jazz aus London und dem aus Amerika bisher so auf den Punkt gebracht wie das "Source" genannte von Nubya Garcia. Die Differenz liegt in den gut 400 Jahren Vorgeschichte, mit der Verzweiflung des Blues über die Verschleppung und Versklavung der Afroamerikaner und ihrer Verfolgung bis in die Gegenwart auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite der Neugier auf das immer wieder Neue, das die Einwandererwellen nach London brachten. Man sollte den Rassismus im Vereinigten Königreich nicht schönreden, und die Klassengrenzen schon gar nicht. Aber wie vergleichsweise idyllisch es im kosmopolitischen London zugeht, fiel Nubya Garcia auf, als sie vor einigen Jahren begann, rund um die Welt zu touren.

"Mir war schon klar, dass ich hier in einer sehr diversen Stadt lebe", sagt sie an diesem drückend heißen Nachmittag in der Kühle des Büros ihrer Plattenfirma in einem dieser sehr prächtigen Gebäude von Westminster. "Aber auf meinen Reisen habe ich gemerkt, wie entspannt wir hier sind. In New York zum Beispiel gibt es ja auch diese Vielschichtigkeit, aber da merkt man doch rasch, wie getrennt die verschiedenen Gruppen dort voneinander leben. Das gibt es hier nicht in dem Maße."

"Longtones habe ich geübt. Stundenlang, so lange ich sie nur halten kann"

In Großbritannien und Amerika hat die 28-jährige Tenorsaxofonistin seit einiger Zeit den Ruf, eine der Besten ihres Instruments zu sein, auch wenn sie bisher noch gar kein eigenes Album herausgebracht hatte. Dafür taucht sie auf den Besetzungslisten einiger der wichtigsten Platten der Londoner Gegenwart auf. Der Pianist Joe Armon-Jones holte sie zum Beispiel für sein Album "Turn to Clear View" ins Studio, der Tuba-Virtuose Theon Cross für "Fyah" und die Trompeterin Yazz Ahmed für "Polyhymnia". Gemeinsam mit Sheila Maurice-Grey gründete sie die Gruppe Nerija, und sie tauchte auf dem Sampler "We Out Here" auf, den der Saxofonist Shabaka Hutchings für das Brownswood-Label des legendären DJs Gilles Peterson zusammenstellte.

Es ist vor allem ihr Ton, mit dem sie eine Präsenz entwickelt hat, die ihren Status als "Tenor Giant" rechtfertigt. Ein Strom voller Wärme und Autorität, mit dem sie jeden noch so komplizierten Rhythmus beherrscht, jeden noch so raffinierten Harmoniewechsel. In der Ausbildung erzählen sie einem das meistens nicht, aber jeder Saxofonist von Format verrät das als offenes Geheimnis. Wie wichtig der Ansatz, der Ton, der Atem sind, auf denen alles andere nur aufbaut, und wie zweitrangig die Technik ist, wenn es darum geht, eine eigene Stimme zu finden. Man ist dann schon fast erstaunt, wie kumpelhaft und jung sie wirkt, wenn man sie trifft, weil sich ihre Präsenz längst in die majestätischen Pressefotos und die vielen Attribute als "Queen" und "Empress" des Londoner Jazz hineingeschrieben und fortgesetzt hat.

Nubya Garcia hat lange daran gearbeitet. "Longtones habe ich geübt. Stundenlang, solange ich sie nur halten kann", sagt sie. "Da kann man daran arbeiten, wie man seine Ideen in den Raum projiziert, wie man Gewicht entwickelt, selbst wenn man ganz leise spielt."

Sie eroberte sich früh den Bebop, jene virtuose Frühform des Modern Jazz aus den Vierzigerjahren. "Als Teenager schon. Irgendwas berührte mich in dieser Musik. Aber glaub' nicht, dass das cool war damals. Ich war ein Sonderling." Obwohl sie in Camden aufwuchs, einer dieser Ecken von London, in denen sich die kulturelle Neugier in alle Richtungen Bahn bricht.

"Die uns jetzt nachfolgen, werden das alles nicht mehr haben."

"Unsere Eltern haben uns früh auf Konzerte, Aufführungen und Lesungen geschleppt", sagt sie. Der Vater stammte aus Trinidad, die Mutter aus Guayana. Sie hatten sich eingerichtet in Camden mit seinen hübschen Reihenhäuschen aus der Gründerzeit, seinen Parks und seinen trubeligen Hauptstraßen. Sie gehören zu der Sorte Bildungsbürgertum, das nicht aus der Tradition, sondern aus Offenheit und Neugier kommt. Zwischen Literatur und Oper, Lyrik, Jazz und der Musik aus der alten Heimat fanden die Garcias ihren kosmopolitischen Kanon. Und ihre Kinder ihren Weg. Nubya Garcias älteste Schwester ist Opernsängerin, eine andere Schwester spielt Cello, ihr Bruder Trompete. Sie war die Jüngste, durfte am meisten ausprobieren.

Angefangen hat es mit einer kaputten Klarinette, da war sie fünf. Dann folgte das Klavier, später kaufte ihr die Mutter ein Saxofon. Sie nahm Unterricht, besuchte Workshops, Jamsessions, lernte das Komponieren am Music College und den eigenen Weg bei den "Tomorrow's Warriors". Das ist das inzwischen legendäre Projekt für Jazzbildung, das der Bassist Gary Crosby und die Produzentin Janine Irons Anfang der Neunzigerjahre im Southbank Centre gründeten.

Fast alle neuen Londoner Jazzstars haben bei Crosby und Irons angefangen. Deswegen kennt Nubya Garcia die meisten von ihnen aus früher Jugend. Ihren Pianisten Joe Armon-Jones zum Beispiel, die Cross-Brüder Theon und Nathaniel oder den Saxofonisten Shabaka Hutchings, der sich gerne mit ihr duelliert. Man hört das auf den Platten, weil diese Vertrautheit über die Jahre zu einem musikalischen Einverständnis gewachsen ist, in dem sich die Musiker jederzeit in jeder Idee der anderen wiederfinden können.

"Es war schon ein Segen", sagt Nubya Garcia und seufzt, weil sie sich daran erinnern muss, dass sie das in einer sehr endgültigen Vergangenheitsform sagt. "Die uns jetzt nachfolgen, werden das alles nicht mehr haben." Man denkt dann erst mal an die Seuche. Immerhin sitzt man mit ihr in einem sehr verwaisten Bürogebäude. Eine einzige Angestellte der Plattenfirma ist auf dem Stockwerk und erzählt, das sei jetzt seit März das zweite Mal, dass sie aus dem Vorort ins Büro gekommen sei.

Unten in der Eingangshalle voller Stuck und Marmor standen zwei Sicherheitsbeamte, die so froh schienen, dass mal jemand vorbeikommt, dass sie den Weg in den sechsten Stock wie einen Staatsbesuch inszenierten, mit gestaffelten Aufzügen, Türen, die aufgehalten und Wegweisungen, die gestikuliert wurden. Das vornehme Geschäftsviertel drumherum ist so verwaist wie in den Anfangsszenen des Zombie-Thrillers "28 Days Later", für die der Regisseur die Innenstadt absperren ließ. Man bekommt hier nicht mal einen Kaffee und an einem ganz normalen Werktag kaum einen Menschen zu Gesicht.

Aber Nubya Garcia seufzt nicht wegen der Seuche. Das britische Elend begann ja schon früher. "Die ganzen Gelder haben sie gestrichen. Für die Bildung. Für die Kultur. Für den Musikunterricht an den Schulen, in dem ja alles begann." Die menschenfeindliche Sozialpolitik der Konservativen wütet ja nicht erst seit Boris Johnson.

Nicht, dass ihr nicht bewusst ist, wie schwer es sein wird, mitten in der Pandemie ein Debütalbum zu veröffentlichen. Beim Glastonbury Festival hätte sie im Sommer ihren Durchbruch feiern sollen. Übrig blieb nur ein Videodreh von einem Duo mit ihrem Pianisten auf einer einsamen Wiese dort, eine der "Glastonbury Experiences", mit dem sich das Epizentrum des Festivalsommers um den Abgrund mogelte, der sich in der Seuche auftat.

Sicher mag es beeindruckend sein, dass Nubya Garcia selbst in diesem dürren digitalen Format Präsenz und dieses Volumen transportieren kann. Und ja, es war durchaus ein Höhepunkt des Streamingsommers, als sie am vergangenen Wochenende in der Rolle des Stargasts bei Shabaka Hutchings Auftritt für das Summer Stage Festival des New Yorker Central Parks auftrat. Auch wenn das eben eine Übertragung aus einem Londoner Loft war, in dem sich die beiden Tenor-Giganten über den Puls einer doppelt besetzten Rhythmusgruppe hinweg die Bälle zuwarfen. Man muss das nicht schönreden. Menschenmengen live in die Ekstasekurven des Jazz mitzunehmen, wäre ein ganz anderer Start gewesen.

So bleibt erst einmal das Album. Mit seinen vielschichtigen Rhythmusebenen vom Dubstep der Rave-Jahre über den Reggae und den karibischen Nyabinghi-Groove bis hin zur Cumbia von der Nordküste Kolumbiens, wo sie auf Tour musikalische Schlüsselerlebnisse mit lokalen Musikern hatte. Man vergisst beim Hören, dass sie kaum Gastmusiker dabei hatte, dass hier lediglich ein Quartett die Rhythmen in einen Jazzfluss bringt. Das Klangbild hat Breitwandformat, hin und wieder aufgepolstert mit Elektronik und Stimmen. "Ich arbeite ja nebenher auch als DJ", sagt sie. Beim Radiosender NTS und auch live bei Raves. "Wenn man auflegt, öffnet das einem eine ganz andere Klangwelt, und man bekommt ein ganz gutes Gespür dafür, wie etwas klingen muss, damit das auch über einen Lautsprecherturm funktioniert."

Die Menschen aus aller Welt kamen einmal nach London, weil hier so viel möglich war

Oder eben im Kopfhörer, in dem einen Nubya Garcia in ein London führt, das nur selten hinter dem Funkeln der Metropole auftaucht. Jenes London voller Seele und Spiritualität, das sich in den vielen Nischen einer Stadt eingerichtet hat, in der jeder seinen Weg und Gefährten dafür finden kann. In der Jazz nur ein Vehikel ist und keine Form. Eine Stadt, in die es Menschen aus aller Welt zog, weil hier so viel möglich war. War. Nubya Garcia lächelt. Sie lässt sich ihre Begeisterung nicht verleiden. Es mag sein, dass in den vielfach gestaffelten Katastrophen der Gegenwart viele Türen zuschlagen, die vielleicht nie wieder aufgehen. Aber für sie hat sich gerade eine geöffnet. Und für ihre Hörer. Denn "Source" ist vor allem ein furioses Versprechen für den Aufbruch einer Stimme, die noch viel zu sagen haben wird.

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SZ vom 25.08.2020
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