Süddeutsche Zeitung

Jazz und Klassik:Musik aus der Stille

ECM-Labelgründer Manfred Eicher kuratierte in der Elbphilharmonie ein Festival mit Meredith Monk, Avishai Cohen und anderen Künstlern aus der Geschichte seines Labels.

Von Jan Paersch

Stille. Sekundenlang. Jedes Album des Labels ECM beginnt mit fünf Sekunden Andacht. In der Hamburger Elbphilharmonie verstanden es die Besucher, zuweilen noch für längere Zeiträume zu schweigen. In den Momenten, ehe die fünf Frauen in weißen Gewändern auf die Bühne schwebten, in den Momenten, bevor der Trompeter nach dem Applaus sein Horn ansetzte, ja sogar, ehe ein Herr mit schlohweißem, schulterlangen Haar auf den Knopf eines CD-Players drückte. "The most beautiful sound next to silence", das Motto der Münchner Jazz- und Kammermusik-Ästheten von ECM, das den Abgleich jedes Tons mit der Stille verlangt, gilt nicht nur für die kühlen Albumproduktionen des Labels, sondern auch für die Auftritte seiner Künstler.

An vier aufeinanderfolgenden Tagen bespielten die Musiker vergangene Woche beim "Reflektor Manfred Eicher" die beiden Elbphilharmoniesäle in die Hand. Unter "Reflektor" versteht man in Hamburg eine Reihe, in der große Namen wie The National und Nils Frahm das Programm des Konzerthauses gestalten. Nun durfte der Produzent und Labelgründer Manfred Eicher (der Herr mit dem weißen Haar) als erster Nichtkünstler ein Festival kuratieren, das selbstverständlich ausschließlich Größen seiner Plattenfirma ECM präsentierte. Wobei "Nichtkünstler" natürlich ein Understatement ist. Eicher hat sich mit seinem beeindruckenden Werk und seinem schweigsamen Wesen längst selbst die Aura eines Auteurs geschaffen. Nicht ohne Grund waren die Huldigungen zum 50. Labelgeburtstag vergangenes Jahr vor allem Eicher-Huldigungen.

Konsequenterweise lud man am Tag vor Festivalbeginn zu einer "Listening Session mit Manfred Eicher" in den Kleinen Saal der Elbphilharmonie. Die Presseabteilung versprach eine "Gelegenheit zum Austausch", gar eine "Séance". Doch Eicher sagte kein Wort. Er deutete eine Verbeugung an und startete einen CD-Player. Die folgende anderthalbstündige Playlist gab ausschließlich Selektionen aus der ECM New Series wieder: Bach und Kurtág im Wechsel, dann Vokalmusik und Lyrik. Sperriges (Hölderlin) bis Sperrigstes (Gubaidulina), nur kurz aufgeheitert von der arabesken Barockmusik des Siwan Ensemble. Eine schwermütige Auswahl, die, läse man sie als persönliches Statement des 76-jährigen Eicher, wie eine düstere Zustandsbeschreibung erscheint.

Ist das noch ein Konzert oder schon eine Installation?

Ähnlich wortkarg zeigte sich Egberto Gismonti während seines Konzerts im Großen Saal. Der Brasilianer ließ kaum Raum für Pausen, betrat die Bühne und legte los, mit abstrakten wie romantischen Kompositionen: exakt 30 rasante Minuten auf der Gitarre und genau 30 ähnlich furiose Minuten am Flügel. Besonders auf der Akustikgitarre in der zehnsaitigen Spezialausführung verblüffte er, zupfte melodisch Bossa-artiges mit rechts, und hämmerte wuchtige Bassfiguren mit der linken Hand.

Der stets wie ein Brooklyner Hipster verkleidete Avishai Cohen war schon optisch ein Kontrast zum in Schwarz gewandeten Gismonti. Der Trompeter, der ob seines weichen Spiels gern mit Miles Davis verglichen wird, zeigte mit seinem israelischen Quartett, warum er als neuer Heilsbringer des Modern Jazz gilt. Die Vielschichtigkeit hinter dem Wohlklang kam live zum Vorschein, wenn Cohen lange Solopassagen spielte und sein Instrument in den Korpus des Flügels blies. Jeder in dieser beeindruckenden Band bekam Raum, um zu glänzen. Insbesondere Drummer Ziv Ravitz. Der beherrschte Taktarten, die kein Sterblicher je erkennen könnte. Doch war nichts Show, das Quartett kommuniziert mit einer unaufdringlichen Lässigkeit, die nur Jazzer draufhaben, die länger in den USA gespielt haben.

Für kaum einen der zum Reflektor geladenen Künstler war die Elbphilharmonie nur alltägliche Tourstation. Auch der tunesische Oud-Meister Anouar Brahem war eigens nach Deutschland gereist. Mit seiner US-Band hatte er vor zwei Jahren an selber Stelle ein triumphales Konzert gegeben, nun war Brahem mit gewohntem europäischen Quartett plus Streicher unterwegs. Da ließ man sich bald vom meditativen Klang dieses Ensembles einlullen. Auch ohne Drummer ist der Farbreichtum dieses Ensembles enorm, wenn auch die filmmusikalische Note, die das Orchester Brahems arabeskem Jazz anfügte, nicht jedem gefiel. Die großen Momente gab es nur, wenn die Streicher schwiegen.

Im Kleinen Saal nebenan sorgte anschließend eine New Yorker Künstlerin für den Höhepunkt des Festivals. Eine anmutige Koboldin, deren flüssige Bewegungen auf ein Alter weit unterhalb ihrer tatsächlich 77 Jahre schließen ließen, glitt mit einem Lächeln auf die Bühne und moderierte die Europapremiere ihrer "Cellular Songs" an. Was mit Zischen und Zungenschnalzen begann, ging bald in lautmalerische Vokalartistik über.

Ist das noch ein Konzert oder schon eine Installation? Seit mehr als 50 Jahren steht Meredith Monk für interdisziplinäre Kunst: Tanz, Performance, Stimmakrobatik. Die Frau mit den charakteristischen Zöpfen und ihr vierköpfiges Ensemble, ganz in Weiß gekleidet, maßen die Bühne in der ganzen Breite aus und spielten zu fünft am Flügel. All das geschah mit einem sagenhaft verspielten Sinn für Rhythmus, Humor und Schönheit.

Bemerkenswert: wie gut jedes dieser Konzerte klang und wie konzentriert das Publikum zuhörte. Manfred Eicher selbst war fast immer anwesend. So war es jedes Mal so, als sei man bei einer seiner Produktionen dabei. Und würde sekundenlang der Stille hinterherlauschen, ehe die Musik einsetzt.

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Quelle:
SZ vom 11.02.2020
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