Süddeutsche Zeitung

Jazzkolumne:Neuland

Die "Sons of Kemet" spielen zornige Musik für die "Black Lives Matter"-Zeiten. Solche Visionen findet man in dieser Dichte sonst eher bei Pionieren wie Wanye Shorter, Hank Mobley oder George Coleman.

Von Andrian Kreye

Auf ihrem neuen Album "Black to the Future" (impulse) kommen die Sons of Kemet ihrer eigenen Größe endlich sehr viel näher als auf den bisherigen Alben. Live ist das Quartett revolutionär. Das hat auch etwas mit der Lautstärke zu tun, mit der Shabaka Hutchings, angetrieben von seinen zwei symbiotischen Schlagzeugern, sein Tenorsaxofon live in eine musikalische Dampframme verwandelt. Es hilft deswegen, das Album auf einer Stereoanlage und sehr viel zu laut anzuhören. Wenn möglich mit Unterstützung eines Subwoofers, um die Effekte zu erzielen, die Theon Cross live auf der Tuba erschafft. Bei ihm wird aus dem Blechblasinstrument ein Bassgenerator, der im unteren Frequenzbereich Vibrationen erzeugt, die im akustischen Jazz bisher noch nicht zum Vokabular gehörten.

Weil die Musik zwar neu, die Probleme der Gesellschaft aber im ermüdenden Kreislauf die immer noch gleichen sind, haben die Sons of Kemet den feministisch-politischen Ansatz ihres vorherigen Albums angesichts der inzwischen weltweiten "Black Lives Matter"-Bewegung noch mal verschärft und sich ein paar prominente Stimmen der Gegenwart ins Studio geholt. Angel Bat Dawid, Moor Mother und Kojey Radical stehen da mit ihrem Gesang und den Spoken Words nicht nur für eine neue Politisierung des Jazz, sondern auch für eine Radikalisierung der Haltung. Und auch das gehört zur Größe der Band.

Musikalisch geht es vielen Londoner Jazzern ähnlich wie den Sons of Kemet. Auch beim Pianisten und Rapper Alfa Mist konnte man beim Anhören seiner Alben immer nur ahnen, warum er so gefeiert wird. Auf seinem neuen Werk "Bring Backs" (Anti) tritt er selbstbewusst auf die Bremse und erzeugt über die gesamte Strecke jene melancholische Silbrigkeit, mit der ein Fender-Rhodes-Klavier fast jeden musikalischen Kontext mit seinem Metallzungen-Wohlklang in ein wohliges Wehgefühl der Nostalgie tunken kann. Das nimmt den Erwartungsdruck aus den Broken Beats der Drummer und den Improvisationen des Trompeters Johnny Woodham. Im Gegenschnitt zum kompromisslosen Feuer der Sons of Kemet ist das eine sehr gelungene Form des Cool.

Auch das Album des Produzenten und Musikers Mathias Modica "Sonic Rohstoff" (Kryptox) verlässt sich schon von vorneherein auf reduzierte Ästhetik. Der mehrfache Label-Gründer und Club-Impresario hat sich vor einigen Jahren auf sein Studium als Jazzpianist besonnen und ein Label für neuen Jazz gegründet, den er vor allem in den deutschen Metropolen findet. Modica denkt den Jazz vom Beat her und definiert vor allem die Ostinati des Funk und Spiritual Jazz als Leitmotive. Das marschiert mit einer wunderbaren Lässigkeit nach vorne. Mag sein, dass die Spannungsbögen ungewohnt beherrscht bleiben. Dafür hat Modica ein großes Gespür für bittersüße Harmonien, die ähnlich wie bei Alfa Mist alles, was live durch die Decke geht, in ein schönes Schillern packen. Könnte, nein sollte der Soundtrack eines Sommers werden, der den Auftakt zu den noch nicht ganz so wilden, aber schon mal coolen Zwanzigern markiert.

Mit den klaren Verhältnissen der Synkopen, Akkordwechsel und Walking-Bass-Linien des Modern Jazz haben solche Platten wenig zu tun. Da wird man derzeit denn auch eher bei den Neuauflagen und in Archiven fündig. Unbedingte Empfehlung: Wayne Shorters "Speak No Evil" (Blue Note), gerade neu gemastert und eines der besten Alben aus der Zeit, als der Jazz die Muster des Bop hinter sich ließ und sich in die Freiheit des Modalen wagte. Was Shorter 1964 mit Herbie Hancock am Klavier und Freddie Hubbard an der Trompete an Spannung und Tiefe erzeugte, bleibt bis heute einzigartig. Man hört deutlich, warum Miles Davis in seiner genialen mittleren Phase in Shorter einen so mächtigen Partner gefunden hatte. Jeder einzelne Ton Shorters konnte die ganze Last der Welt tragen. Melancholie war kein Echo der Verzweiflung, sondern eine abgeklärte Versöhnung mit dieser Welt. Wer's nicht glaubt, möge sich Shorters Stück "Infant Eyes" anhören.

Hank Mobley litt als Tenorsaxofonist immer ein wenig darunter, dass er nicht ganz so visionär spielte und komponierte wie seine genialischen Zeitgenossen. Er begnügte sich oft mit der Perfektion des Gewohnten. Aber was er auf dem ebenfalls neu bearbeiteten Album "Soul Station" (Blue Note) im Dialog mit Art Blakeys Turboprop-Schlagzeug, Wynton Kellys Sprudelklavier und Paul Chambers Walking Bass an Dichte produziert, gewinnt nach nur wenigen Takten enorme Zeitlosigkeit. Auf solchen Alben entsteht das Überraschende aus dem Moment, in dem das Erwartbare neue Größe bekommt. Und sei es der Blues. Das ruht mit einer Souveränität in sich, die einen daran erinnert, warum dieser gar nicht so große Kreis junger Musiker rund um die Talentschmieden von Art Blakey, Miles Davis und Charles Mingus in so wenigen Jahren so viele Grundlagen für ihre Musik legte.

Was man aus Routine im richtigen Moment alles an Höhepunkten rausholen kann, zeigt auch eine erstmals veröffentlichte Aufnahme von George Coleman mit einem Quintett aus versierten Session-Musikern: live "In Baltimore" (Reel to Real). Im Mai 1971 spielten die fünf für die Left Bank Society, eine Gruppe Jazzenthusiasten, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren Jazzstars nach Baltimore holte. Die Stimmung im Famous Ballroom, wo die Konzerte stattfanden, war legendär. Man hört Coleman und seinen Begleitern an, wie sie sich von der euphorischen Laune des Publikums treiben lassen. Was sie aus damals schon zu Tode genudelten Standards wie "I Got Rhythm" und "Body and Soul" an überschäumenden Soli und neuen Ideen rausholen, ist geradezu sensationell. Und wie Coleman da mit Höchstgeschwindigkeit durch Gershwins und Greens jeweilige Akkordwechsel fegt, erinnert an einen meisterhaften Formel-1-Piloten, der bis auf den Millimeter genau weiß, wie weit er eine Kurve ausfahren kann, ohne zu schleudern. Gigantisch.

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