Jazz:Musik in harten Zeiten

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Harte Aussagen - die Saxofonistin Matana Roberts. (Foto: Votos-Roland Owsnitzki/imago)

Endlich: Beim Berliner Jazzfest 2016 zeigten vor allem die amerikanischen Musiker, dass sie wieder an die politische Kraft ihrer Musik glauben. Das war schon lange nicht mehr der Fall.

Von Christian Broecking

Im 53. Jahr ist das Berliner Jazzfest zurück auf der Landkarte der weltweit wichtigsten Festivals. Die Programmpolitik war ambitioniert, die Besetzungsliste beeindruckend, die Konzerte waren schon früh ausverkauft. Dabei las sich das Programm sperriger denn je. Da fanden sich keine landläufige Namen, keine Stars, die hohen Anspruch querfinanzieren. Der einzige Pop-Aspekt des diesjährigen Jazzfests war der diskrete Besuch der Red Hot Chili Peppers als Zuhörer, die sich Auftritte von Joshua Redman und Brad Mehldau, sowie des Globe Unity Orchestra anschauten.

Dass die Bundespolitik sich zur Eröffnung des Festivals auf der großen Festival-Bühne zu Wort meldete, ist neu. Die Kulturstaatsministerin Monika Grütters stellte anlässlich des Festivals neue Förderungen für den Jazz in Aussicht. Das ist eigentlich eine gute Nachricht. Es sei denn, man spricht mit der Saxofonistin Mette Henriette. In ihrer norwegischen Heimat kenne sie die Tücken einer Jazzwelt, die von staatlichen Subventionen abhängig ist, sagte sie vor ihrem Auftritt. Unabhängigkeit bezeichnet sie als ein hohes und knappes Gut. Das ist nicht nur eine Frage musikalischer Freiheiten. Schon lange war der Jazz nicht mehr so politisch wie in diesem Jahr in Berlin.

Die amerikanische Saxofonistin Matana Roberts, die mit einer multimedialen Hommage an die Choreografin Pina Bausch im Vorprogramm des Festivals auftrat, möchte ihre Musik zum Beispiel ausdrücklich als Beitrag gegen institutionellen Rassismus und Sexismus verstanden wissen. Die Bezeichnung als schwarze oder afroamerikanische Komponistin lehnt sie dabei als Diskriminierung ab. Sie will nicht auf ihre Hautfarbe reduziert werden.

Musikalisch schloss sie dabei an politisch deutliche Vorfahren an. In Max Roachs "We Insist! Freedom Now Suite" von 1960 musste die Sängerin Abbey Lincoln zu ihrem Unmut schreiende Laute intonieren. In Matana Roberts' Komposition gehören die Schreie einer Frau schon fest zum Repertoire.

Matana Roberts zählt nicht zu den im amerikanischen Wahlkampf viel bestaunten Millennials, sie wuchs nicht als Digital Native auf, sondern als Tochter eines Black-Power-Aktivisten und politischen Wissenschaftlers in der Tradition der Bürgerrechtsbewegung. Für Roberts ist das Politische Programm, wie in ihrem auf zwölf Teile angelegten Geschichtsprojekt "Coin, Coin" geht es um Herkunft und Identität.

Das Jack DeJohnette Trio führte vor, wie Coltrane in Zeiten von #blacklivesmatter klingen kann

Ähnlich erklärt sich der weltweit gefragte Schlagzeuger Tyshawn Sorey, der beim Jazzfest mit der Pianistin Myra Melford und ihrer Hommage an den Schriftsteller Eduardo Galeano auftrat. Auch Sorey begreift seine Arbeit als Musiker und Komponist als politischen Zeitkommentar. Er könne seine schwarze Hautfarbe nicht ändern, sagt er, klage jedoch ein, dass seine Arbeit nicht auf seine ethnische Herkunft reduziert wird.

Einen in seiner Unmittelbarkeit eindrücklich aktuellen Traditionsbezug gelang dem Schlagzeuger und Pianist Jack DeJohnette mit seinem Trio. Zur Erinnerung: Am 15. September 1963 starben bei einem rassistischen Bombenanschlag auf eine schwarze Baptistenkirche in Birmingham, Alabama, vier Mädchen. John Coltranes Komposition "Alabama" war geprägt von der Trauer und Wut, die das schwarze Amerika in jenen Tagen durchlebte.

Für das Buch "Black Music" gab Coltrane damals dem Kulturkritiker Amiri Baraka zu Protokoll, dass er die soziale Beklemmung seiner Zeit ins Musikalische übersetzt habe. Auf der Bühne des Festspielhauses führten der heute 74-jährige DeJohnette, ein Wegbegleiter Coltranes, zusammen mit den Söhnen von Coltrane und dessen langjährigen Bassisten Jimmy Garrison vor, wie "Alabama" in Zeiten von Black Lives Matter klingt: laut, eindringlich, kompromisslos.

Der 75-jährige Trompeter Wadada Leo Smith gehört mit Henry Threadgill, Muhal Richard Abrams und Anthony Braxton zu den in den USA erst jüngst zu großer Anerkennung gelangten Komponisten, seine Auftritte mit dem Golden Lake Quartet im Festspielhaus, sowie im Duo mit dem Organisten Alexander Hawkins in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gehörten zu den ganz großen Höhepunkten des diesjährigen Jazzfestes. Kaum ein Musiker vereint heute die Spielhaltung der Great Black Music, wie sie vor 50 Jahren von der schwarzen Musikerselbsthilfeorganisation Association for the Advancement for Creative Musicians (AACM) begründet wurde, mit der Geschichte des Jazz und dem Erfindungsreichtum zeitgenössischer Improvisationsmusik auf derart hohem Niveau.

Jüngere Musiker wie der 30-jährige Schlagzeuger Marcus Gilmore, den Wadada Leo Smith in der würdigen Nachfolge von Jack DeJohnette für sein Great Lakes Quartet engagierte, betonen heute zwei Aspekte ihrer Arbeit: die Vielfalt, Verfügbarkeit und Verwendung verschiedenster musikalischer Einflüsse und somit das Ende bisher gültiger Genres. Es bestätigte sich aber auch immer wieder der Eindruck der letzten Monate, es habe sich für das schwarze Amerika im Wesentlichen nichts geändert. Der Autor Ta-Nehisi Coates hat in seinem auch ins Deutsche übersetzten Buch "Between the World and Me: Notes on the First 150 Years in America" die Frage diskutiert, was die Übergriffe und Todesschüsse der Polizei für junge Schwarze heute heißt - vor allem allgegenwärtige Angst.

Der gefeierte Saxofonist Steve Lehman, 1978 in Brooklyn geboren, steht mit seinem New Yorker Oktett für eine neue Szene, die, hochinspiriert von Komponisten wie Henry Threadgill und Steve Coleman, eine Musik aufführt, die besagte Genregrenzen bewusst nicht mehr akzeptiert. Von dieser Erfahrung ist auch die Musik der in Köln lebenden Saxofonistin Angelika Niescier und des Pianisten Florian Weber geprägt, die in ihrem großartigen Quintett zusammen mit New Yorker Musikern die Energie der amerikanischen Jazzmetropole in ihre Klangwelt übersetzen.

Der polnische Trompeter Tomasz Stanko, Jahrgang 1942, bewertet diese Entwicklung äußerst positiv: Die einstigen Grenzen seien in der Musik heute unendlich weit geöffnet. Er wohne mittlerweile sowohl in Warschau als auch in New York, um dort mit jüngeren Musikern zu spielen. Der Pianist Alexander von Schlippenbach hatte Stanko zum 50. Bühnenjubiläum des Globe Unity Orchestra eingeladen, welches das bewährte Ideal der Revolte in einem transeuropäisch besetzten Großensemble des Free Jazz feierte.

Der künstlerische Leiter Richard Williams lieferte mit seiner zweiten und vorletzten Festivalausgabe also einen kompetenten Blick in die Innenwelt und Vielfalt des aktuellen Jazz. Kompromisse an kommerzielle Zwänge, drängelnde Sponsoren oder subventionierte Agenturpakete wurden nicht gemacht. Stattdessen dominierte die Expertise. Selten ist die Risikofreude einer musikalischen Haltung, bei der Gelingen und Scheitern nicht programmierbar sind, auf einer großen Festivalbühne derart nah, konzentriert und unmittelbar erlebbar gewesen wie beim diesjährigen Berliner Jazzfest.

© SZ vom 08.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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