Jazzkolumne:Der wahre King of Pop

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Superstar: Louis Armstrong im Juli 1946 in New York. (Foto: William P. Gottlieb/imago/Cinema Publishers Collecti)

Einflussreicher als die "Beatles" und Michael Jackson zusammen: Zwei neue Bücher rücken das Bild von Louis Armstrong gerade.

Von Andrian Kreye

Es gibt kaum ein Schimpfwort, das für Afroamerikaner so schlimm ist wie "Onkel Tom". Louis Armstrong beschimpften sie immer wieder als solch einen Verräter seiner eigenen Leute und rückgratlosen Kollaborateur mit der weißen Unterdrückergesellschaft. Ausgerechnet den Mann, der den Jazz aus den Nischen von New Orleans in die Mitte der amerikanischen Kultur gerückt hatte. Oder auch gerade deswegen. Weil er immer so viel grinste, was viele als Relikt der Minstrel-Kultur empfanden. Aber auch weil seine Hits wie "Hello Dolly" und "What a Wonderful World" ein überwiegend weißes Publikum fanden. Armstrong machte das immer sehr zornig. Es gibt eine Aufnahme aus den späten Fünfzigerjahren, auf der er über einen dieser beleidigenden Zeitungsartikel schimpfte. Da hört man ihn sehr un-"Wonderful World"-mäßig: "And that motherfucker called me an Uncle Tom! Shit. Them son-of-a-bitches, wait til they come to my dance or concert and act a damn fool." Vorsichtig übersetzt ereiferte sich Armstrong über den Journalisten und überhaupt über alle, die ihn Onkel Tom nannten, die es nur mal wieder wagen sollten, zu einem seiner Auftritte kommen und sich dort dann danebenzubenehmen.

"So wie sie meine Leute im Süden behandeln, kann die Regierung zur Hölle fahren!"

Die Louis-Armstrong-Debatte nahm damals in den Vierziger- und Fünfzigerjahren viel von den Authentizitätsdebatten voraus, die derzeit wieder so manchen Diskurs prägen. Rechtzeitig zu seinem 120. Geburtstag am 4. August kamen nun zwei Bücher heraus, die diese Debatte in den richtigen Kontext setzen. Das eine ist von Wolfram Knauer. Der leitet das formidable Jazzinstitut Darmstadt und war 2008 als erster Nicht-Amerikaner Louis Armstrong Professor of Jazz Studies an der Columbia University in New York. Im Juni veröffentlichte er "Black and Blue - Louis Armstrong, sein Leben und seine Musik" (Reclam-Verlag, Ditzinger, 2021. 256 Seiten, 25 Euro, begleitende Playlist auf Spotify).

Knauer schreibt zum einen Armstrongs Lebensgeschichte wie einen Entwicklungsroman des amerikanischen Jahrhunderts auf, was das Buch auch dann sehr lesenswert macht, wenn einem Armstrongs Musik nicht so liegt. Er rückt aber vor allem die immer noch schwelende Debatte in die Deutung der Gegenwart. Streng genommen ist das Buch auch gar keine Neuerscheinung, sondern eine überarbeitete Neuauflage der Erstausgabe von 2010. Im neuen Vorwort schreibt er: "Seither haben weitreichende politische Entwicklungen in den Vereinigten Staaten auch den Blick auf die Kultur des Landes beeinflusst: der erste schwarze Präsident, der zwischenzeitliche Siegeszug eines rigiden Populismus, Polizeigewalt und terroristische Attentate auf Schwarze und eine breite Bewegung, die sich dem strukturellen Rassismus in System und Gesellschaft entgegenstellt." Womit er die "Black Lives Matter"-Bewegung meint, die all die Fragen der Authentizität, Gemeinde und Integration noch einmal einem ganz neuen Stresstests unterzogen hat.

Nur durch diesen Blickwechsel wird aus der Lebensgeschichte Armstrongs eine Parabel, die Knauer am Schluss zu der sehr weisen Erkenntnis führt, dass weder Erfolg noch Pop ein Verrat an der Kultur der Afroamerikaner bedeutet. Er macht das an Armstrongs größtem Hit fest: "Die größte Schnulze, die Armstrong jemals eingespielt hat ... ist alles andere als ein Jazz-Highlight: ,What a Wonderful World'. Und doch ... merkt man schnell, dass der so klebrig nach ,schöner Welt' klingende Text ihm tatsächlich aus dem Herzen sprach. Für Louis Armstrong war die Welt schön, insbesondere dann, wenn er sie anderen Menschen verschönern konnte."

Knauer beschreibt in seinem Buch auch die kämpferische Seite Armstrongs, der sich bei aller musikalischen Gefälligkeit ja durchaus gegen Rassismus und für Bürgerrechte engagierte. Da war vor allem Armstrongs Wutausbruch, nachdem der Gouverneur von Arkansas Orval Faubus 1957 die Nationalgarde vor der Central High School in Little Rock aufmarschieren ließ, um schwarze Schüler zu verjagen und damit die Integration in seinem Staat zu verhindern. Armstrong beschimpfte Faubus daraufhin als Bauerntölpel und Präsident Eisenhower als Heuchler. "So wie sie meine Leute im Süden behandeln, kann die Regierung zur Hölle fahren", sagte er damals. Das hatte durchaus Gewicht, weil er damals als Kulturbotschafter für das amerikanische Außenministerium durch die Sowjetunion touren sollte. Was er aus Protest absagte.

Noch einen Schritt weiter geht Ricky Riccardi. Der ist Archivdirektor im Louis Armstrong House Museum im New Yorker Stadtbezirk Queens und hat vergangenen Herbst den zweiten Band seiner auf drei Teile angelegten Mammut-Biografie veröffentlicht ("Heart full of Rhythm - the Big Band Years of Louis Armstrong". Englische Originalausgabe, Oxford University Press, Oxford, 2020. 400 Seiten, um die 30 Euro). Das Buch handelt von Armstrongs Aufstieg vom Jazz-Pionier zum Popstar zwischen 1927 und 1947. Das sei keineswegs Ausverkauf, sondern eine enorme Integrationsleistung gewesen, schreibt Riccardi. Gerade weil er die Rassengrenzen ähnlich wie Michael Jackson später weniger überwand, als unsichtbar machte. Und er zitiert aus einem Essay des Trompeters Nicholas Payton, der dem noch einen draufsetzt: "Ich bin kein Freund von Superlativen, aber Armstrongs Hot-Five-Aufnahmen sind die einflussreichsten Platten der Popmusik. Einflussreicher als die Beatles oder Michael Jackson zusammengenommen. Auf diesen Aufnahmen entwickelte er die ganze Idee des virtuosen Gesangs- und Instrumentalsolisten im Pop-Idiom."

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