Jazz-Kollektiv "Kokoroko":Musik ohne die Regeln der Genre-Polizei

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„Schwarz, britisch und jung“, so defniert Maurice-Grey (MItte) ihre Band. (Foto: Nina Manandha)

Das Londoner Afrobeat-Kollektiv "Kokoroko" will den Jazz raus aus den elitären Liebhaberzirkeln und zurück in die Clubs holen. Denn Qualität, Originalität und Pop-Appeal schließen sich nicht aus.

Von Jonathan Fischer

Die Jazz-Welt hat ein Problem. So viel Freiheit diese Musik auch ausstrahlen mag, so elitär und geschlossen wirkt oft der Club ihrer Liebhaber. "Lange Zeit", sagt Sheila Maurice-Grey, eine Londoner Jazz-Trompeterin mit westafrikanischen Wurzeln, "war unser Publikum vorwiegend älter, weiß und kam aus der Mittel- und Oberschicht. Nichts gegen Senioren, aber wir haben ein anderes Ziel: junge Menschen zu erreichen, die so aussehen wie wir." Maurice-Grey ist Teil einer Szene, die inzwischen genau das erreicht hat: Jazz wieder hip zu machen. Die Avantgarde zurück auf die Straße und in die Clubs zu bringen.

Ihre amerikanischen Kollegen Kamasi Washington und Thundercat hatten auf der anderen Seite des Atlantiks vorgearbeitet: Seit Gastauftritten auf Kendrick Lamars Album "To Pimp A Butterfly", 2015, begeisterten sie eine neue Generation für ein vermeintlich verstaubtes Genre. Gleichzeitig zündelte in London eine Szene junger Revolutionäre. Musiker wie Zara McFarlane, Shabaka Hutchings, Moses Boyd oder das Ezra Collective orientieren sich nicht mehr an den Standards, die Jazz in der Vergangenheit gesetzt hatte. Ja, sie müssen überhaupt keinem Genre mehr gehorchen. Stattdessen werfen sie zusammen, was sie am polyglotten Straßenleben Londons schätzen: gebrochene Beats, afrikanische und karibische Sounds, Funk und Punk - oder auch stundenlange Tuba-Schlagzeug-Duelle. Why not?

"Schwarz, britisch und jung", sagt Maurice-Grey, das reiche als Definition. Mit einigen schwarzen Musikerkolleginnen hat sie das weibliche Jazz-Kollektiv Nérija ins Leben gerufen. Berühmter noch ist ihre zweite Band, das experimentelle Afrobeat-Outfit Kokoroko , dessen Name im westafrikanischen Orobo "bleib stark" bedeutet und das beweist, dass Qualität, Originalität und Pop-Appeal sich nicht ausschließen müssen.

Am stärksten überträgt der Gemeinschaftsgeist von Kokoroko sich live bei den Konzerten

34 Millionen Klicks hat ihr verträumt-melancholisches Stück "Abusey Junction" bereits gesammelt - Zahlen, von denen selbst die Superstars des Genres kaum zu träumen wagen. Afro-Folk plus Jazz-Ambiente hoch Inner-City-Coolness. So etwa könnte die Formel für den Kokoroko-Sound lauten. Fünf der zur Hälfte weiblichen Bandmitglieder haben nigerianische Wurzeln. Das hört man. Offensichtlich sind gerade die Bläser tief in die Plattensammlung ihrer Eltern und Großeltern eingetaucht. Highlife und Afrobeat-Stilistiken, selbst schon jazzbeeinflusste Hybride treffen da auf die unakademische Coolness des jungen migrantischen London. "Alle bringen ihre Kultur und ihre Wahrheit ein", erklärt Maurice Grey, "und machen das zu einem britischen Ding." Das klingt angesichts der Brexit-Debatte wie eine heilsame Wahrheit. Was wäre der britische Pop ohne diese Offenheit? Und wer schert sich um die Jazz-Polizei, wenn es gelingt, abseits der Major Labels und renommierten Konzerthallen junge Menschen wieder für Jamsessions und Improvisationsabenteuer zu begeistern?

Angefangen hatte Maurice Grey als Mitglied eines Jugendprojekts, der Straßen-Karneval-Truppe Kinetica Bloco, wo sie den späteren Kokoroko-Schlagzeuger Onome Edgeworth kennenlernte. Wichtiger noch für ihre musikalische Entwicklung: Die "Tomorrow's Warriors", eine von Veteran Gary Crosby gegründete Talentschmiede, die vor allem schwarze und weibliche Musiker adressierte und ihnen die Möglichkeit gab, mit arrivierten Jazzern zu jammen und sich zu professionalisieren. Auch Zara McFarlane, Moses Boyd, Shabaka Hutchings oder die Kokoroko-Saxofonistin Nubya Garcia durchliefen diese Schule. 2018 sollte Gilles Petersons Label Brownswood auf der Kompilation "We Out Here" einige der Stars dieser Szene vorstellen. Kokorokos "Abusey Junction" lieferte dabei den heimlichen Hit. Wer konnte dieser von harmonischen Bläserriffs getragenen Gitarrenlyrik widerstehen? Auf einer im März 2019 veröffentlichten EP zeigte das Kollektiv seine ganze Bandbreite. Vom zurückgenommenen afrikanischen Walzer "Ti-de" bis zum rhythmisch anschwellenden Afrobeat von "Uman", einer Hymne an den Kampf schwarzer Frauen. Am stärksten aber kommt der Gemeinschaftsgeist von Kokoroko immer noch live rüber - vor einem Publikum, das immer öfter so aussieht wie sie.

Kokoroko.

Konzerte: 18.10. Mannheim, 20.10. München, 21.10. Köln, 22.10. Hamburg, 23.10. Berlin.

© SZ vom 18.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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