Süddeutsche Zeitung

Jazz in Deutschland:Musik ohne Groove und Humor

Der Jazz hat in Deutschland keine gesellschaftliche Relevanz mehr. Gut leben können von diesem Musikgenre nur noch Journalisten und Veranstalter. Die Ursachen dafür sind jedoch selbstgemacht.

Michael Hornstein

Es gibt zwei große Strömungen im deutschen Jazz: einerseits den unterhaltenden Jazz im Club- und Restaurantbetrieb, andererseits den Jazz, der sich seit den achtziger Jahren als eine Art moderne Kunstmusik in konzertanten Kontexten zu etablieren versucht. Beide Bereiche werden nicht von den Musikern selbst verwaltet, sondern von Veranstaltern, Redakteuren, Journalisten, Verlegern und - allerdings zu einem immer kleineren Teil - kleinen Labels.

Der Jazz im Clubbereich hat es am schwersten. Musik in Clubs wurde besonders in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren weitgehend von DJs übernommen, Livemusik ist bestenfalls noch Lückenfüller. Der DJ ist im Club einer Band klar überlegen, er kann die verschiedenen Musikstile und Bands mit Leichtigkeit in höchster Qualität nebeneinanderstellen. Das Publikum hat sich längst an diese lässig hochwertigen Stilmixe gewöhnt, die eine Liveband letztlich nicht liefern kann.

Dazu kommt: Die üblichen Clubgagen für Livebands liegen zwischen 20 und 200 Euro pro Auftritt. Der Markt ist trotzdem völlig überlaufen. Um einen Job unterbieten sich eine Unzahl von Bands. Es kostet viel Zeit und Geld, um an diese Jobs zu kommen. Die Faustregel ist: Ein einstündiger Auftritt bedeutet für einen Bandleader fünf Stunden Organisationsarbeit: Konzeptentwicklung, Akquise, An- und Abfahrt, Auf- und Abbau, Equipment-Beschaffung, Musiker-Telefonate, Rechnungen und Gema-Meldungen. Die Verwaltung des Jazz in Deutschland, vor allem in dem Bereich, in dem er als Kunstmusik oder als eine Form der ernsten Musik funktionieren will, ist in den vergangenen Jahren ständig gewachsen, während die Gagen der Musiker kontinuierlich gefallen sind.

Es gibt Jazz-Institute, immer mehr Jazz-Redaktionen und sogar Veranstalter, die Büros mit Angestellten unterhalten. Für den einzelnen Musiker ist das übrigens ein doppelter Nachteil: Es versickern nicht nur Fördergelder, mit dem eigentlich die Musiker gefördert werden sollten, es gibt auch immer mehr Menschen, mit denen man telefonieren muss, um an eine der raren Auftrittsmöglichkeiten zu kommen. Einen Radiomitschnitt bekam man bis in die neunziger Jahre noch mit wenigen Anrufen bei einem Redakteur und seiner einzigen Mitarbeiterin, der Sekretärin. Es wurde einmal telefoniert und schließlich ein Standardvertrag aufgesetzt. Das war's. Danach konnte man sich wieder um das Wesentliche kümmern: die Musik. Heute gibt es allein beim Rundfunk in München mindestens X Jazzredakteure. Und auch mit Telefonaten ist es längst nicht mehr getan. Man schreibt auch noch reichlich E-Mails. Eigentlich bekommt man nur noch Arbeit, wenn man mit den verantwortlichen Redakteuren "befreundet" ist.

Wenn man dann allerdings einen Rundfunkmitschnitt ergattert hat, geht der Schriftverkehr erst richtig los. Die Einflussnahme auf die Musik durch Redakteure ist heute größer denn je. Etwas überspitzt gesagt heißt das: Früher ließ man die Musiker musizieren, heute müssen sie ihre Projekte erklären, "verkaufen", besser noch: in Zusammenarbeit mit den "Arbeitgebern", den Redakteuren und Veranstaltern, erst entwickeln.

Erfolglose Musiker in Machtpositionen

Das bringt ein gravierendes Problem mit sich: Viele Redakteure, Journalisten und Veranstalter in Deutschland haben sich selbst als Jazzmusiker versucht, konnten sich aber nicht etablieren. Statt nun die Finger von der Musik zu lassen, kommen sie als Redakteure in Machtpositionen, in denen sie die musikalischen Vorstellungen, mit denen sie schon einmal gescheitert sind, doch noch ausführen lassen können. Von Musikern, die jetzt von ihnen abhängig sind. Die wiederum müssen das Spiel mitmachen, damit sie überhaupt über die Runden kommen.

Gerade intelligente junge Musiker ahnen, was der Betrieb erwartet und bieten dann genau das: eine vollkommen idiosynkratische Kunstmusik. Und genau hier kommt dann auch noch die Hybris des deutschen Kulturbetriebs dazu, dessen Grundannahme zu sein scheint: Gerade weil diese Musik vom Publikum nicht verstanden und abgelehnt wird, muss sie große Kunst sein. In Wirklichkeit ist es eine groove- und humorfreie Musik, die im Grunde niemanden interessiert.

Natürlich gibt es großartige Beispiele für Jazz als Kunstmusik. Grundsätzlich muss für diese Jazzvariante in Sachen Entwicklung, Komposition und Proben auf höchstem Niveau gearbeitet und investiert werden. Die meisten Projekte sind jedoch kurzfristig angelegt. Notgedrungen. Der Betrieb erwartet in schneller Abfolge neue Projekte. Im Normalfall wird nämlich kaum eine Band oder ein Projekt zweimal gebucht. Der Markt giert nach Neuigkeiten, und es gibt ja auch eine Unzahl von neuen Projekten, die auf den Markt drängen. Leider können sich Bands und Projekte so aber nur sehr schwer weiterentwickeln.

Der organisatorische Aufwand, der nötig ist, um eine Band im Geschäft zu halten, steht in keinem Verhältnis zum Ertrag der Musiker. Gut leben können vom Jazz in Deutschland nur Redakteure, Journalisten und Veranstalter. Diese Elite lässt sich von Musikern unterhalten, die ihrerseits wohlsituiert sein müssen, um überhaupt mitspielen zu können. Eine große Rolle spielen auch die zahlreichen neu gegründeten Jazz-Hochschulen: Hier unterrichten meistens nicht Musiker, die erfolgreich waren, sondern vor allem Musiker, die selbst aus dem Hochschulsystem kommen, das aber vom echten Konzertbetrieb weitgehend abgeschnitten ist. Letztendlich unterrichten hier also Musiker, die nie professionell Jazz gespielt haben, Musiker, die nie professionell spielen werden.

Mit einer Musik, die mit ihrem Publikum auf zeitgemäße und elegante Art kommuniziert, hat das wenig zu tun. Immerhin können hier Jazzmusiker von ihrer Arbeit leben. Im Jazz wurde früher über Songs improvisiert, die das Publikum kannte. Das konnten Schlager sein, aber auch Musical-Melodien oder klassische Themen. Es war essentiell, über bekannte Themen zu improvisieren, da eine Variation nur als Variation wahrgenommen werden kann, wenn das Publikum das Ausgangsmaterial kennt. Band und Publikum hatten so eine gemeinsame Sprache und "unterhielten" sich über ein gemeinsames Thema.

Heute spielen viele Bands gerade beim Versuch, Jazz als Kunstmusik aufzuführen, nur noch Eigenkompositionen. Das macht die Kontaktaufnahme zum Publikum noch schwerer, als sie ohnehin längst ist. Sehr auffällig ist auch die eklatante Ignoranz deutscher Jazzmusiker gegenüber ihresgleichen. Schon Musiker gleicher Nationalität und gleichen Alters besuchen nur selten Konzerte der Kollegen. Das Interesse von Jazzern verschiedener Altersgruppen aneinander ist nahe null. Eine Szene aber, die sich nicht einmal für sich selbst interessiert, kann nicht erwarten, dass sich andere für sie interessieren.

Früher zu jung, heute zu alt

Eine weitere echte Unwucht ist, dass der Jazz-Betrieb in Deutschland vor allem die Förderung junger Musiker im Blick hat. Für Musiker, die älter als 40 Jahre sind, gibt es kaum noch Auftrittsmöglichkeiten. Das Goethe Institut zum Beispiel schickt kaum Musiker über 45 auf Tourneen. Zu alt. Dies ist eine für die Betroffenen grausame Entwicklung. Gerade auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkeiten bekommen sie also keine Jobs mehr. In den siebziger und achtziger Jahren war es im Jazz genau umgekehrt: Man sollte erst einmal etwas erlebt haben, um "etwas zu sagen zu haben", jung zu sein war out.

Heute sind jugendliche Musiker gefragt, in der klassischen Musik ist ganz Ähnliches zu beobachten. In einem überalternden Land wird Jugendlichkeit zum Maß der Dinge. Der groteske Nebeneffekt: Musiker, die heute um die 50 sind, waren jung, als es out war, jung zu sein - und sie werden alt, zu einem Zeitpunkt, an dem es out ist, alt zu sein.

Der Jazz in Deutschland hat sich seit den frühen neunziger Jahren in seiner Ästhetik und Sprache nicht weiterentwickelt. Die Ansätze, Jazz mit aktueller Clubmusik zu verbinden, werden vom Publikum meist abgelehnt. Die Bemühungen, aus Jazz eine Art improvisierte E-Musik zu machen, folgen nach wie vor entweder der Ästhetik der sechziger Jahre oder versuchen immer noch, explizit mit eben dieser Ästhetik zu brechen, so wie es bereits in den siebziger und achtziger Jahren im Umfeld des Pianisten Keith Jarrett und des Produzenten Manfred Eicher und seines Labels ECM versucht worden ist. Diesen Versuchen bleibt nur ein ständig schrumpfendes Publikum, da der Jazz ja selbst ewig gestrigen Konzepten folgt.

Die meisten Neuerscheinungen sind Rückgriffe auf die Geschichte des Jazz und Aufgüsse des ewig Gleichen, von jüngeren und hübscheren Musikern immer langweiliger nachgespielt. Sie sprechen, aber sie sagen nichts. Es fehlt an klaren Aussagen und Profilen. Das Publikum spürt diese innere Stagnation natürlich. So wie sich der deutsche Jazz derzeit präsentiert, kann er gar keine gesellschaftliche Relevanz haben.

Der Autor ist Saxophonist, Komponist und Musikproduzent. Er wurde 1962 geboren. Sein bislang letztes Album "Summertime Opium" erschien 2011.

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Quelle:
SZ vom 21.01.2012/mahu
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