Süddeutsche Zeitung

Jazz-Genie Jacob Collier:Hausmusik und Herbie Hancock

Jacob Collier haben seine daheim gedrehten Musikvideos bekannt gemacht. Seitdem gilt der 21-Jährige in seiner Heimat Großbritannien als Wunderkind. Nun tritt er in London auf.

Von Martin Zips, London

Es ist nicht viel los, an diesem grauen Nachmittag auf den Straßen von Finchley, einem Stadtteil im Norden von London. Auf einem recht übersichtlichen Grünstreifen führen Frauen Hunde spazieren, während ein älteres Paar den Inhalt seiner Mülltonne auf den Bürgersteig kippt. "Wenn dieses Dokument auch hier nicht ist, wo ist es dann?", raunzt die Frau ihren Mann an. "Verdammt noch mal, ich habe einfach keine Ahnung", antwortet er. An der Haustür nebenan warnt ein Schild Hausierer vor dem Betätigen des Klingelknopfes. Na gut, man klingelt trotzdem.

Ein junger, netter Typ in Jogginghose und Strickjacke öffnet. Jacob Collier heißt er, ist gerade mal 21 Jahre alt und wird von den britischen Zeitungen als "der neue Jazz-Messias" und als "Londoner Wunderkind" gefeiert. Sicher wieder einer dieser Youtube-Stars, von denen jeden Tag neue auftauchen. Oder nicht?

Jacob Collier führt den Gast ins warme Wohnzimmer, dort isst er gerade mit Schwester Sophie zu Mittag. Es gibt Toast mit Baked Beans und Salat. Auf der Tischdecke ist eine Weltkarte abgebildet, an der Wand gegenüber dem Kamin hängt ein Plakat des österreichischen Künstlers Friedensreich Hundertwasser. Alles recht bürgerlich hier. Seit seiner Geburt wohnt Jacob in diesem Haus. Er ist das älteste Kind, seine Schwestern Sophie, 19, und Ella, 15, leben unter demselben Dach. Alle drei Kinder haben eine gute Beziehung zu ihrer Mutter Susan, einer in London nicht unbekannten Violinistin, Dirigentin und Musiklehrerin.

Am schönsten Ort der Welt

Die Colliers sind ausgesprochen musikalisch, jeder spielt mindestens ein Instrument, gemeinsam singt man Bach-Choräle. Glücklicherweise sind die Nachbarn recht tolerant, und die dicken Mauern des 109 Jahre alten Reihenhauses halten vieles ab. Durch einen lärmdämmenden Vorhang führt Jacob jetzt in ein sehr enges Zimmer, in dem man zu zweit kaum Platz findet. Ein Klavier, mehrere Keyboards, ein Kontrabass, ein Schlagzeug, ein Dutzend Gitarren, Geigen, Flöten, Percussion-Instrumente, dazu ordnerweise Notenblätter, Partituren, Kameras, Mikrofone und ein Computer - ganz schön voll hier. "Für mich ist das der schönste Ort der Welt", sagt der schlaksige Typ. Dank des Internets ist sein Musikzimmer mittlerweile weltbekannt.

Früher habe in dem Raum die ganze Familie geübt, erklärt Jacob, dessen Großvater auch schon ein bekannter Geiger war. "Aber nach und nach habe ich mir das Zimmer unter den Nagel gerissen, mir alle Instrumente angeeignet, neue dazu geschenkt bekommen oder gekauft." Heute komponiert, arrangiert, singt und spielt er selbst dann noch, wenn Schwestern und Mutter schon schlafen. Gerade poppt eine neue Mail in seinem Postfach auf. Geschrieben hat sie Chick Corea, der zu den weltweit bekanntesten Jazz-Pianisten gehört. In wenigen Stunden wird Jacob mit ihm in einem Londoner Club gemeinsam auf der Bühne stehen.

Vor vier Jahren hatte Jacob damit begonnen, eigene Musikvideos bei Youtube zu veröffentlichen. Videos, in denen er jede Stimme selber singt und jedes Instrument selber spielt. Jacobs Stimme ist einzigartig, sie umfasst alle Stimmlagen, von Sopran bis Bass.

Der Junge ist in den Videos gleich mehrfach zu sehen, er trägt verschiedene Hemden, verschiedene Frisurenstile - er multipliziert sich, akustisch wie optisch, macht aus sich den Jacob-Collier-Chor und die Jacob-Collier-Bigband. "I'm weird", sagt Jacob und lacht. Das kann "ulkig" bedeuten, aber auch "komisch", "seltsam" oder "gruselig".

Seine Videos sind fantastische Kunstwerke, mitreißend, auch verstörend. "Es gibt kein Land auf der Erde, in dem sie noch nicht angeklickt wurden", sagt er. "Die schreiben mir sogar von den Fidschis und den Färöer-Inseln. Das ist schon lustig, denn eigentlich bewege ich mich ja immer nur zwischen Schlaf- und Musikzimmer hin und her."

Ein Lehrer in der Musikschule, die Jacob besuchte, hatte ihn damals auf die Idee gebracht: "Lass uns ein Multimedia-Schulkonzert machen", sagte er und überließ Jacob leihweise ein Videoschnittprogramm. Der Schüler sang und filmte und war von allem so begeistert, dass er seinen Lehrer sodann um eine Raubkopie des Programms bat. "Nein, Jacob, die darf ich dir nicht geben", sagte der Lehrer, ließ die CD aber dennoch auf dem Tisch liegen und verließ das Klassenzimmer. Jacob verstand und steckte sich das Ding heimlich ein. Die Videos, die er seitdem daheim erschafft und online stellt, wurden anfangs nur ein paar Dutzend Mal geklickt. Doch dann, nach "Pure Imagination", fand Jacob plötzlich eine Nachricht von Jazzstar Pat Metheny in seiner Mailbox ("Großartig!"). Und nach seiner Interpretation von "Don't you worry 'bout a thing" von Stevie Wonder meldeten sich bei ihm Herbie Hancock, Take 6, "Thriller"-Komponist Rod Temperton und viele andere Künstler, von denen Jacob schon allerlei gehört hatte.

Ja, sogar Michael-Jackson-Produzent Quincy Jones fragte an, ob Jacob nicht seine Management-Abteilung nutzen möchte. Ganz unverbindlich natürlich, bei voller künstlerischer Freiheit. Jones sagt, er habe "sein ganzes Leben noch nie so ein Talent gesehen wie Jacob".

Eine Jacob-Collier-Solo-Bühnenshow

Collier, mittlerweile arbeitet er nicht mehr mit Raubkopien, wurde 2014 erstmals auf das Jazz-Festival von Montreux eingeladen, dann zu gemeinsamen Gigs mit der WDR-Bigband, Herbie Hancock und Popstar Jamie Cullum. Interessierten Fans erklärt er via Skype - gegen Bezahlung - wie genau er in seinem Musikzimmer komponiert. Und Computer-Freaks aus Boston boten kürzlich an, mit ihm eine Jacob-Collier-Solo-Bühnenshow zu entwickeln. "Warum nicht?", sagte er sich und brach nach Boston auf.

Kein Wunder, dass sich Jacob nun dazu entschlossen hat, sein Jazzpianist-Studium an der Royal Academy of Music erst einmal ruhen zu lassen. Es ist einfach zu viel los in seinem Leben. Und jetzt arbeitet Jacob Collier an seinem ersten Album. Plattenfirmen hätten ihm gerne ihre großen Tonstudios überlassen. Doch er wollte nicht. Sein Musikzimmer reiche ihm völlig, sagt er. "Das Album mache ich komplett selbst. Wer den Verkauf übernimmt, das können wir ja dann sehen." Großartig, dieses Selbstbewusstsein.

Ende kommenden Jahres möchte Jacob mit seiner Solo-Show auf Tournee gehen. Das Wunderkind, ganz alleine mit ein paar Instrumenten im Rampenlicht und gleichzeitig multimedial auf der Leinwand hinter ihm. In England, Brasilien und der Schweiz hat er sich auf einigen Bühnen schon mal ausprobiert. An diesem Freitag nun wird die Show bei einem Konzert mit US-Trompeter Terence Blanchard erstmals auf dem Londoner Jazz-Festival vor 2000 Menschen in einer Konzerthalle zu sehen sein. Anfragen aus Tokio, Hongkong und Australien liegen vor. Aber im März sind erst mal die Philippinen dran.

"Kennst Du Humpty Dumpty? Oder Spain?", fragt Chick Corea in seiner Mail. "Was sollen wir heute spielen?" Jacob geht zurück ins Wohnzimmer, starrt auf seinen aufgeweichten Bohnen-Toast und den Salat auf der Weltkarten-Tischdecke. Er überlegt. "Spain ist schon cool, oder?" Mit acht Jahren nahm Jacob seinen ersten Gesangsunterricht - vor dem Stimmbruch trat er in Opern von Alban Berg, Giacomo Puccini, Wolfgang Amadeus Mozart und Benjamin Britten als Kinderdarsteller auf.

Als es noch kein Internet gab, da wäre seine Geschichte wahrscheinlich so verlaufen: Irgendwann wäre Jacob von irgendeinem internationalen Label entdeckt worden. Oder auch nicht. Man hätte ihm, weil er sich als außerordentlich talentiert erwies, erklärt, wie er seine Karriere anpacken muss, damit sie auch kommerziell erfolgreich wird. Oder auch nicht. Notfalls hätte man ihn, weil er jung ist und gut aussieht, zum Schnulzensänger gemacht. Er hätte damit reich und glücklich werden können. Oder auch nicht.

Dank der Macht des Netzes kann Jacob heute recht autonom entscheiden, wie es mit ihm weitergeht. Seine weltweite Youtube-Gemeinde, die er sich zum Beispiel mit einer genialen eigenen Vertonung des Robert-Frost-Gedichts "The Road Not Taken" erarbeitet hat, steht hinter ihm. Das macht ihn stark. Auf einer Crowdfunding-Seite wird Geld für jedes neue Musikvideo gesammelt.

Zurück zu Bohnen-Toast und Frotteetüchern

Aber jetzt fällt ihm gerade die Eieruhr seiner Schwester Sophie ein. "Hör doch mal!", sagt er am Tisch des weinrot gestrichenen Wohnzimmers. "Aus diesem Ticken heraus habe ich eine ganz neue Version von George Gershwins ,Fascinating Rhythm' entwickelt. Klingt gut, oder?" Jacob lacht, isst weiter Bohnen und wischt sich den Mund mit einem riesigen Frottee-Handtuch ab. Wie ein Kind. Manchmal, wenn er ein spezielles Geräusch brauche, lasse er zum Beispiel seine Familie im Wohnzimmer auf dem Holzboden herumspringen, erzählt er. Oder er zeichne das Klatschen seiner Hände in allen Räumen des Hauses auf und mixe daraus das ultimative Jacob-Collier-Klatsch-Geräusch. "I'm weird", wiederholt er.

Die Technik-Freaks in Boston haben in seinem Auftrag nun auch ein irres Gerät entwickelt, das Jacobs Stimme entsprechend den Akkorden, die er auf dem Keyboard drückt, verfremdet. Die "Vocal-Harmonizing-Machine".

Am Abend, im ausverkauften Ronnie Scott's Jazzclub, bittet Chick Corea den 21-Jährigen dann für die Zugabe zu sich auf die Bühne. Jacob packt diesmal seine Hohner-Melodica aus und trötet, sehr ehrfürchtig, zu Coreas Hit "Spain". Corea lobt Jacob als "Vocal-Multi-Instrumentalist-Sensation", das Publikum jubelt, und die Presse bezeichnet den jungen Musiker am Tag darauf als "Top-Anwärter" für höchste musikalische Weihen.

Und nach dem Konzert? Da fährt Jacob Collier wieder zurück nach Finchley. Zu seinen Schwestern und seiner Mutter. Zu Bohnen-Toast, Frotteetüchern und Instrumenten. In sein ganz eigenes geniales Reich.

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Quelle:
SZ vom 18.11.2015/cag
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