Jazz für leere Straßen:Düstere Gesellen erhellen düstere Zeiten

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Der israelische Jazz-Trompeter Avishai Cohen hat ein neues Album vorgestellt. (Foto: Sam Harfouche\ECM Records)

Warum man das neue Album "Big Vicious" des israelischen Trompeters Avishai Cohen möglichst laut hören sollte

Von Thomas Steinfeld

Vor langer Zeit, als die Stereoanlagen noch Haustempel waren, mit einer Lautsprechersäule links, einer Säule rechts und einem leuchtenden Altar in der Mitte, besaßen Verstärker Pegelanzeigen, mit jeweils einem zittrigen Zeiger für jeden der beiden Kanäle. Wurde eine als "null Dezibel" angesetzte Marke überschritten, begann es in den Lautsprechern zu klirren und zu lärmen. Im Prinzip gibt es solche Pegelanzeigen immer noch, wenngleich in digitalen Versionen. Sie dienen indessen nur noch selten dem Hören im Wohnzimmer, sondern werden für das Aufnehmen genutzt, unter privaten wie unter professionellen Bedingungen: Sie zeigen an, wie weit ein technisch gegebener maximaler Dynamikumfang tatsächlich beansprucht wird. Wenn es nicht um Metal oder Grunge geht, bewahrt man dabei in der Regel deutlichen Abstand zur Null-Dezibel-Marke, um erst gar nicht in die Gefahr des Verzerrens zu geraten.

Man hätte nicht erwartet, nicht in den Siebzigern und erst recht nicht in der Gegenwart, dass eine Aufnahme des Münchner Labels ECM auch nur in die Nähe jener Null-Marke käme: in der Aufnahme, nicht erst in der Reproduktion. Beim jüngsten Album des israelischen Trompeters Avishai Cohen indessen wurden die Regler weit nach oben geschoben. Zu Beginn seiner Laufbahn war dieser bärtige Mann, dessen Ton deutlich von Miles Davis beeinflusst zu sein scheint, durch ein breites Register musikalischer Interessen aufgefallen. Er spielte Klezmer, Klassik, Modern Jazz, Bebop, allerhand Avantgardistisches, hatte sich aber zuletzt zurückgenommen und drei Alben für ECM eingespielt, in denen er den hellen Ton seiner Trompete über weite und oft wie verregnet anmutende Landschaften des Klangs gleiten ließ.

Das ist nun anders: Den Ton behielt er für sein jüngstes Album bei, die langen, schwebenden Melodien auch. Darunter aber klopfen, hauen und klappern nun zwei Schlagzeuger und zwei Gitarristen (von denen einer auch elektrischen Bass spielt, mit dem Plektrum), meist in langsamen Tempi, aber mit einer Heftigkeit, dass es den Zeiger immer wieder gegen die Null-Dezibel-Marke treibt.

Was das Böse ist? Betörenderweise das Ergebnis eines eisernen Beats

Manche Hörer populärer Musik bleiben sich treu, manche Musiker ebenfalls. Sie beginnen bei den Rolling Stones, bei Abba oder bei Nirvana und bleiben ihr Leben lang an diese Klänge gebunden. Andere durchlaufen einen musikalischen Bildungsweg. Oft beginnt er im eher leichten Genre, geht danach über in den Rock und führt dann früher oder später in den Jazz oder auch in die Klassik, um dort während der verbleibenden Jahrzehnte zu verweilen.

In die umgekehrte Richtung, vom Differenzierten zum Einfachen, geht selten einer, was für Hörer wie für Musiker gilt. "Wir kommen alle aus dem Jazz, aber einige von uns haben ihn früher aufgegeben", soll Avishai Cohen über das Ensemble gesagt haben, mit dem er schon seit Jahren zusammenspielt, das aber erst jetzt in dieser Formation mit einem Album hervortritt. "Big Vicious" nennt er die Gruppe, das "große Böse". Was damit gemeint ist, kann man nur vermuten, aber man dürfte nicht völlig in die Irre gehen, wenn man annimmt, das "Böse" stehe hier für die teuflisch betörende Kraft, die von schlichten Akkordfolgen und eisernen Beats ausgehen kann. Es ist, als würden Zahnärzte in einen Steinbruch geschickt, damit sie lernen, wie man in Granit bohrt. Und als würde ihnen die harte, grobe Arbeit eine grausame Freude bereiten, während die Trompete in kalter, einsamer Schönheit die Aufsicht über das Spektakel führt.

Zu dieser zuweilen fast unheimlichen Mischung des Feinen mit dem Groben gehört die Auswahl der Kompositionen. Avishai Cohen und seine Musiker spielen "Teardrop", das Lied, mit dem die britische Gruppe Massive Attack in den späten Neunzigern berühmt wurde, und die Entscheidung für dieses Stück erscheint als programmatisch: im langsamen, düsteren Schlagen der Trommeln, in den drei Akkorden (G 11, D-Dur, C 7), die das Stück tragen, in der ätherischen Stimme, die sich über diesen Gewichten erhebt. Mit Beethovens "Mondscheinsonate" wird ähnlich umgegangen, mit dem Unterschied, dass die Metren in wilder Folge wechseln. Und in der Komposition "King Kutner" rückt man so nah wie möglich, allerdings ohne Verzerrungen, an den Grunge heran, mit zwei Powerchords über As und E und einer Melodie, die nicht viel mehr tut, als die Grundakkorde um eine Quinte zu versetzen.

Das interessanteste kleine Werk auf diesem Album ist indessen die Eröffnung: Zuerst sendet es Morsesignale über einen federnden Rhythmus, für den man, erkennbar, zwei Schlagzeuger benötigt. Dann wandert die Trompete durch eine lange Akkordfolge, während die Gitarren einen großen, dunklen Raum aufscheinen lassen. Die düsteren Gesellen von "Big Vicious", so lautet die Botschaft, sind nicht ganz von dieser Welt. Womöglich sind sie ideale Begleiter auf einsamen Spaziergängen durch die leeren Straßen der Großstadt.

Wenn diese Botschaft vernommen werden soll, spielen die Dezibel durchaus eine Rolle: Diese Musik zielt weniger auf den Kopf als auf das Knochenmark. Laut klingt dieses Album jedenfalls deutlich besser als leise.

© SZ vom 21.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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