Jazz:Doppeltes Bewusstsein

Sons of Kemet
Pressematerial

„Ich sehe mich nicht als eingeschlossen in einer einzigen Tradition.“ – Shabaka Hutchings (Zweiter v. li.) mit seinen „Sons Of Kemet“ Theon Cross (li.), Tom Skinner, Eddie Hick (re.).

(Foto: Pierrick Guidou)

Keine Reinheitsgebote, kein hoher Ton, kein ausgestelltes Virtuosentum - die britische Band "Sons Of Kemet" und ihr neues Album "Your Queen Is A Reptile" sind frei von allem, was am Jazz ranzig schmeckt.

Von Klaus Walter

Den Namen Nelson Mandela hörten wir zum ersten Mal 1984. Seit dem Ska Revival Ende der Siebziger waren wir Fans der Specials. Nach einigen Umbesetzungen hatte die Band aus Coventry als The Special A.K.A. die Single "Free Nelson Mandela" veröffentlicht. Wer ist dieser Mandela, fragten wir uns, es gab noch kein Internet. Der Song wird ein Hit in Großbritannien, der Name Mandela ist in aller Munde, und vier Jahre später initiiert Jerry Dammers, der musikalische Kopf der Specials, ein Konzert zum 70.Geburtstag von Nelson Mandela, damals noch Gefangener des Apartheidsregimes in Südafrika. Am 11. Juni 1988 treten Stars wie George Michael, Whitney Houston, die Bee Gees und Stevie Wonder im ausverkauften Wembley Stadion auf. Das Konzert wird in 67 Länder übertragen und erreicht 600 Millionen Menschen, der Anfang vom Ende von Mandelas 27-jähriger Haft. Und der Apartheid. Es dürfte nicht viele Popsongs geben, die eine größere politische Wirkung erzielt haben als "Free Nelson Mandela". Der Songtitel fungiert als hermeneutisches Fenster. Der Musikwissenschaftler Lawrence Kramer versteht hermeneutische Fenster als "Öffnen des Raumes zur Interpretation von Sound, im Gegensatz zu einer Verengung der Möglichkeiten der Interpretation".

Viel Interpretation ist bei "Free Nelson Mandela" allerdings nicht nötig, verfügt der Song doch über einen prägnanten Refrain, der unablässig die Forderung nach Freiheit für den guten Mann wiederholt. Hermeneutische Fenster braucht's also vor allem bei Musiken, in denen kein Wort sagt, worum es geht, was im Jazz häufiger der Fall ist. Dizzy Gillespie etwa dichtete einen Gospelstandard um: Aus "Swing Low Sweet Chariot" wird "Swing Low Sweet Cadillac", ein Wagengleichnis im Namen der kapitalistischen Säkularisierung. Das schönste hermeneutische Songtitelfenster verdanken wir Charles Mingus: "All The Things You Could Be By Now If Sigmund Freud's Wife Was Your Mother". In acht Minuten gibt die wortlose Musik keinen Anhaltspunkt, was man sein könnte, wenn Sigmund Freuds Frau deine Mutter wäre, aber man hört den nervösen Klassiker auch beim tausendsten Mal aufmerksamer, als hätte Mingus ihn "You And Me" getauft, oder "Night And Day".

Was zu den Sons Of Kemet führt, die mit jedem Songtitel ihres neuen - und soeben in Großbritannien auch für den bedeutenden Mercury-Preis nominierten - Albums "Your Queen Is a Reptile" (Impulse) ein hermeneutisches Fenster öffnen. Sons Of Kemet ist eine Afro-Jazzband aus London, wobei das Wort Jazz hier im weitesten Sinne zu denken ist. Sie besteht nur aus vier Mitgliedern, wovon gleich zwei Schlagzeuger sind, live können es sogar vier Trommler werden, dazu kommt die perkussive Tuba von Theon Cross und das grenzensprengende Saxofon von Bandgründer Shabaka Hutchings. Kemet ist der altägyptische Name für Ägypten und Hinweis auf die politische Agenda der Band.

Wenn die Weißen uns aus der Geschichte rausgeschrieben haben, dann müssen wir uns wieder reinschreiben

Im geschichtsphilosophischen Verständnis des Afrofuturismus, der im Zuge des Kino-Blockbusters "Black Panther" gerade eine Renaissance erlebt, ist Ägypten eine jener hoch entwickelten schwarzen Zivilisationen, die von weißen Imperialisten geplündert und ausradiert wurden. Auf der Suche nach einem besseren Leben orientiert sich der Afrofuturismus an glorreichen Vergangenheiten, die aus der weißen Geschichtsschreibung gelöscht wurden. So wird Kemet - Ägypten - zur Chiffre für eine Zukunft jenseits von Sklaverei und Rassismus. Wenn die Weißen uns aus der Geschichte rausgeschrieben haben, dann müssen wir uns wieder reinschreiben - nach dieser Logik operieren Afrofuturisten. Sie arbeiten an einer Gegenerzählung, der afroamerikanische Autor Greg Tate spricht von "Erasing the Erasure", die Auslöschung der Auslöschung. Dabei helfen Kulturtechniken, die das Re- im Namen tragen: Re-Interpretation, Re-Cycling, Re-Mix, Re-Konstruktion, am Ende gar: Re-Volution.

Eine Re-Vision von Geschichte leiten die Sons Of Kemet schon mit dem Albumtitel ein: "Your Queen Is a Reptile". Das Reptil, so steht's im Booklet der Platte, ist "eure Königin", die im Namen des britischen Empire unsere Vorfahren ausgebeutet und gequält hat: "Your Queen is not our Queen. She does not see us as human." Der weißen Reptilienkönigin setzen die Sons Of Kemet schwarze Königinnen entgegen. "My Queen is Ada Eastman" heißt der erste Song, "My Queen is Doreen Lawrence" der letzte, und anders als die Specials-Fans 1984 auf der Suche nach Mandela kann man heute Suchmaschinen anwerfen und lernen, dass alle neun Queens auf "Your Queen Is a Reptile" schwarze Frauen sind, die den Lauf der Geschichte verändert haben. Die bekanntesten: Angela Davis, linke Bürgerrechtsaktivistin von 1968 bis heute, und Harriet Tubman, die im Sezessionskrieg entlaufenen Sklaven half, aus dem Süden in den Norden zu fliehen.

Wundersamerweise öffnen sich bei der gleichzeitigen Recherche der Königinnen-Namen und dem Hören der Musik tatsächlich hermeneutische Fenster. Bei soviel Konzept kommt allerdings auch schnell die Jazzpolizei mit dem Einwand, dass vor lauter Theorie-Überbau die Musik zu kurz komme. Zu Unrecht.

"Your Queen Is a Reptile" wäre auch eins der aufregendsten, weil Jazz transzendierenden Alben dieser Tage, hätten die Songs nur Nummern als Titel, gäbe es keinen Begleittext, kein Cover, also gar keinen Überbau. Gibt es aber, und das macht das Album zu einem beglückenden Kunstwerk. Ausgedacht hat sich das alles Shabaka Hutchings, Gründer der Sons Of Kemet und Schlüsselfigur der gefeierten neuen Londoner Jazz-Szene, die man vielleicht besser Bewegung nennen sollte, weil sie so frei ist von allem, was ranzig schmeckt am Jazz: Reinheitsgebote, hoher Ton, ausgestelltes Virtuosentum.

Stattdessen weht der Wind von Postpunk, No Wave, Fake Jazz, es öffnen sich Fenster in die Zeit von 1978 bis 1984, einer der produktivsten Phasen der Pop-Geschichte mit vergessenen Bands wie Pigbag, Rip Rig & Panic oder Defunkt. Sons Of Kemet sind geprägt von afrokaribischen Soundflüssen, von der Bass Culture, die in Großbritannien das sogenannte "Hardcore Continuum" gestiftet hat, die lange Tradition von Tanzmusiken, die nicht denkbar wären, ohne die musikalischen Mitbringsel schwarzer Briten aus den ehemaligen Kolonien: Dancehall Reggae, Jungle, Drum & Bass, Dubstep, Grime.

Die Sons Of Kemet und alle anderen Projekte von Shabaka Hutchings sind Bündel aus dem postkolonialen Sound-Kontinuum, gegen die der weiße Rock der Herren Gallagher, Weller & Co so alt aussieht wie die Reptilienkönigin Elisabeth gegen die ins hermeneutische Fenster gestellten Königinnen der Sons Of Kemet. Das letzte Wort hat deshalb hier Shabaka Hutchings. Als einziger Sohn einer schwarzen Mutter wird er 1984 in London geboren, mit sechs kommt er nach Barbados, mit 16 zurück nach London: "Als diasporische Person ist meine Kultur aus Afrika in die Karibik gewandert und von dort nach Großbritannien. Ich sehe mich nicht als eingeschlossen in einer einzigen Tradition. Der Sozialwissenschaftler Paul Gilroy spricht davon, dass der ,Black Atlantic' synonym ist mit doppeltem Bewusstsein, also dass man sich selbst versteht als britisch und karibisch."

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