Jazz:Die Macht des Kontrapunktes

Der Komponist Kamasi Washington erreicht mit seiner Musik ein Publikum, das für Hochkulturelles wie den Modern Jazz längst als verlorene Generation galt. Wie das funktioniert, zeigt seine neue Platte.

Von Andrian Kreye

Wenn man sich Kamasi Washingtons neue Platte "Harmony Of Difference" (Young Turks) anhört, zieht einen die Musik sofort wieder in diesen Strudel aus Überwältigung und Euphorie. Musikalisch und emotional ist das einfach zu erklären. Die neue Platte bringt das alles sogar noch schlüssiger auf den Punkt als sein Monumentalwerk "The Epic". Man versteht auch, warum seine Musik jungen Hörern oft viel besser gefällt als Leuten, die sich mit Jazz auskennen.

Jazz: Monumentalmusik gegen die Haltungslosigkeit der Ironie: Kamasi Washington mit Saxophon und einem Teil seiner Band.

Monumentalmusik gegen die Haltungslosigkeit der Ironie: Kamasi Washington mit Saxophon und einem Teil seiner Band.

(Foto: WCGD)

Als Komponist beherrscht Washington zunächst einmal die Überwältigungsstrategie des Kontrapunktes. Er verschränkt eine gewaltige Menge melodischer, harmonischer und rhythmischer Ideen und schleift damit das Jazzdiktat der Solisten, denen alle anderen untertan sind. Damit kriegt er auch Hörer, die mit der Reizüberflutung des Pop und Hip-Hop aufgewachsen sind, die gerne mal einen ganzen Stapel unwiderstehlicher Motive ineinander verschränken, um ihr notorisch unaufmerksames Publikum bei der Stange zu halten.

Emotional greift Washington schamlos ins Glückszentrum des Musikhörerhirns

Seit Washington im Frühjahr 2015 sein monumentales Dreifachalbum "The Epic" veröffentlichte, wurde er ja immer wieder mal wie ein Messias des Jazz gefeiert. Was immer weniger mit seiner Musik zu tun hatte (die gar nicht viel Neues mit sich bringt) als damit, dass er ein sehr junges Publikum erreicht, das für Hochkulturelles wie den Modern Jazz längst als verlorene Generation abgehakt wurde.

Da hilft natürlich auch sein Rhythmusgefühl, das sich nach einer Kindheit im Hip-Hop-Epizentrum South Central Los Angeles und später in langen Jahren als Saxofonist und Arrangeur für Hip-Hop-Stars wie Snoop Dogg oder Kendrick Lamar entwickelt hat. Das steht gar nie im Vordergrund. Hip-Hop-Motive finden sich bei ihm nicht einmal im Rhythmus. Er selbst kann das gut beschreiben, wie sich die scharfen Akzente des Hip-Hop mit den Synkopen des Jazz in seinem Kopf zu einem neuen Fluss vereinen. Und weil sein einer Schlagzeuger Tony Austin beim Erfinder des Drumcomputers, Roger Linn, gelernt und der andere, Ronald Bruner Jr., sein Geld bei Metal-Bands wie den Suicidal Tendencies verdient hat, kommen da sowieso noch ein paar popkulturelle Ebenen mehr dazu. Mal abgesehen von der klassischen Ausbildung seines Pianisten Cameron Graves und den Filmmusikerfahrungen seines Bassisten Miles Mosley.

Emotional greift Kamasi Washington einfach schamlos ins Glückszentrum des Musikhörerhirns, das so bereitwillig darauf reagiert, wenn die Reflexe des Kehlkopfes eine menschliche Stimme oder ein stimmähnliches Instrument wie das Saxofon imitieren, eine euphorische Finte, die bei glückseligen Melodielinien zu ebensolchen Gefühlen führt.

Das zieht sich durch die gesamte Platte. "Harmony Of Difference" ist eine sechsteilige Suite von rund 32 Minuten Laufzeit, die Washington als Auftragsarbeit für das New Yorker Whitney Museum geschrieben hat. Die Musik war Teil einer Installation, zu der auch noch ein Film des Regisseurs A. G. Rojas und Bilder seiner Schwester, der Malerin Amani Washington, gehörten. Alle sechs Teile haben philosophisch schwergewichtige Titel (auf Deutsch wären das Verlangen, Bescheidenheit, Wissen, Perspektive, Integrität und Wahrheit). Bei "Humility" nutzt Washington die euphorische Finte im Leitmotiv gleich zwei Mal, lässt die Bläser erst Sprünge von bis zu eineinhalb Oktaven vollführen, um sie dann über eine gestaffelte Kadenz nach oben zu treiben.

Damit nicht genug. Kamasi Washington greift auch historisch ins emotionale Zentrum der Generation Hip-Hop. Die musikalischen Querverweise mögen im Jazz wurzeln. Doch wenn er auf dem Tenorsax Linien von Grover Washington Jr. anklingen lässt, das Röhren von Gato Barbieri, wenn er vor allem die bittersüße Stimmung der Soundtracks beschwört, die der Bassist Bill Lee für die Filme seines Sohnes Spike schrieb, dann verknüpft er das Rhythmusgefühl mit dem Jazzverständnis des Hip-Hop. Als Sample war der Jazz dort ja immer präsent. Bei Spike Lee aber schließt sich ein Kreis. Dessen Filme waren Schlüsselwerke für das politische Erwachen der Hip-Hop-Kultur. Bill Lee wiederum war beim Strata-East-Label ein Pionier des Spiritual Jazz. Beides waren Befreiungsmomente der amerikanischen Gegenkultur. Und in Amerika gab es keinen besseren Zeitpunkt als jetzt, die wieder zu beschwören.

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