Süddeutsche Zeitung

Jazzkolumne:Weg in die Freiheit

Lesezeit: 3 min

Auf dem Album "A Love Supreme - Live in Seattle" hört man, wie sich John Coltrane von allen musikalischen Fesseln befreite.

Von Andrian Kreye

John Coltranes "A Love Supreme" gehört zu jenen universalgültigen Musikstücken, die man ins All schicken könnte, um etwaigen Außerirdischen zu beweisen, dass die Spezies Mensch durchaus zu Höherem fähig ist, als sich auf Taschenrechnern zu beschimpfen oder die hauchdünne Atemhülle ihres Planeten mit Verbrennungsmotoren zu überhitzen. Coltrane sagte selbst, dass er mit seinem Schlüsselwerk von 1965 den Kontakt zu Kräften suchte, die jenseits unseres Planeten zu Hause sind. Das war quasi ein Akt interstellarer Diplomatie. Noch besser als auf dem Originalalbum hört man das auf dem Album "A Love Supreme - Live in Seattle" (Impulse), das in dieser Woche erscheint. Darauf ist erstmals eine Aufnahme seiner vierteiligen Suite aus dem Penthouse Club in Seattle zu hören, die er nur selten live spielte. An diesem Abend im Herbst 1965 aber öffnete er sie in neue Richtungen, die sich auf dem Studioalbum nur andeuteten. Dabei war das Original schon ein Start in neue Sphären, der bis heute nichts an Wirkung verloren hat.

Auf dem Studioalbum spielte nicht Coltrane das Grundmotiv des ersten Satzes, sondern Jimmy Garrison auf dem Kontrabass. Daduh, dadih - das ist fast sechzig Jahre später so wiedererkennbar wie die Fünfte von Beethoven oder "Yesterday" von den Beatles. Gegen Ende des ersten Teils skandierte Coltrane das Motiv als Mantra und enthüllte, dass die Bassfigur die Sprachmelodie des Titels "A Love Supreme" im Tonfall eines Stoßgebetes nachahmte. Jeder Ton stand für eine Silbe, was als Ostinato den Effekt aus der Meditationstechnik entwickeln sollte, bei dem die Wiederholung die spirituelle Kraft des Klangkörpers freisetzt. Was John Coltrane in der guten halben Stunde der Suite ansonsten aus seinem Saxofon herausholte, ist im Original ein Zustand, der in Glaubenssystemen als Verzückung beschrieben wird. Das berührte seit der Veröffentlichung im Januar 1965 so viele Menschen, dass man sich im Nachhinein wundert, dass er das Werk in diesen letzten zweieinhalb Jahren seines Lebens so selten auf der Bühne aufführte.

Es gab viele Gründe dafür. Veranstalter, die wollten, dass er seine Hits wie "My Favorite Things" spielte. Fans, die die Höhenflüge seiner Spätphase nicht nachvollziehen wollten. Das konnten ja nicht einmal seine Musiker. Sein Schlagzeuger Elvin Jones formulierte das mal höflich: "Das verstehen nur noch Dichter."

Aus dem Modern Jazz wurde das radikale Moment der "Fire Music"

Jener Abend in Seattle kam kurz nachdem Coltrane sein klassisches Quartett um den Tenorsaxofonisten Pharoah Sanders, den Altsaxofonisten Carlos Ward und den zweiten Bassisten Donald Rafael Garrett erweitert hatte. Seit den Studioaufnahmen von "A Love Supreme" im Winter zuvor war einiges passiert. Es gibt zwar noch eine Live-Aufnahme vom Jazzfestival in Antibes in dem Sommer, bei der er sich mit seinem Quartett weitgehend ans harmonische Original hielt. Doch schon im Juni hatte er mit einem Tentett das Album "Ascension" aufgenommen, das Ornette Colemans epochales Album "Free Jazz" an Radikalität noch übertraf. Anfang August wurde dann sein Sohn Ravi geboren. Wenige Tage später brachen in Los Angeles nach der Misshandlung eines Afroamerikaners durch Polizisten die Watts Riots aus, die Coltrane tief berührten. Und so erweiterte er im September während eines zweiwöchigen Gigs in San Francisco sein Quartett um die drei Musiker, die seine musikalischen Schritte schon vorweggenommen hatten. Sie spielten keine Akkordwechsel mehr, verweigerten sich dem Swing. Aus dem Subversiven des Modern Jazz wurde das radikale Moment der sogenannten "Fire Music".

Ganz sanft beginnt der erste Satz in Seattle mit Coltranes Fanfare. Dann gibt er den Bassisten Raum, mit Akkorden und Bogenspiel frei zu improvisieren, bevor Garrisons Motiv einsetzt und die Rhythmusgruppe den Flow umkreist. Erst in der fünften Minute kehrt Coltrane zurück, um sich über minutenlange Kadenzen in seine "Sheets of Sound" hineinzusteigern, jene Klangflächen, die das Saxofon in die Atonalität öffnen. Bis er schließlich das Grundmotiv kreuz und quer durch alle zwölf Tonarten spielt.

Von da an bricht das Septett die Suite immer wieder mit frei improvisierten Passagen auf. Sanders und Garrett sind Coltrane hörbar weit voraus in ihrer Bereitschaft, die Konventionen der Musiktheorie mit der Flammenwerfer-Ästhetik des Free-Jazz-Saxofons abzufackeln. Jones und Tyner geben noch mal alles, um die Höhenflüge zu beschleunigen, auch wenn man schon ahnen kann, warum sie ihre Plätze bald für Alice Coltrane und Rashied Ali räumten. Da brach etwas in Coltrane auf, das sich lange seine Bahn gesucht hat.

Leicht macht es einem dieses Album nicht. Wer Coltranes Modernismus von "My Favorite Things", die Brillanz von "Giant Steps" oder gar die Melancholie seiner Session mit Duke Ellington sucht, ist auf der falschen Spur. Wer aber wissen will, wie Coltrane von der spirituellen Tiefe von "A Love Supreme" zur Entfesselung von "Interstellar Space" und dem "Concert in Japan" kam, findet hier die Erklärung.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5442813
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.