Zu der Zeit, als Jarvis Cocker ein echter Popstar war, stand er eines Nachts auf der Bühne, mitten auf einer Kuhweide in der südenglischen Grafschaft Somerset, und guckte hoch in die Scheinwerfer.
Sommer 1995, das Glastonbury-Festival. Cockers Band Pulp spielte zum Finale, der Anlass machte ihn ungewohnt pathetisch. "Dass wir hier angekommen sind, liegt daran, dass wir 15 Jahre lang nichts anderes wollten", sprach Cocker, dürr und riesengroß, im Wollanzug mit Vogelscheuchenärmeln, in die Menge der 100 000 Aufgeheizten. "Und ich sage euch: Wenn ein schlaksiger Trottel wie ich es schaffen kann, schafft ihr es auch."
Dann rauschte die Band in "Common People" hinein, Pulps größten, tagesaktuellen Hit, und das Feld explodierte vor Licht und Krawall.
25 Jahre später, in der Gegenwart, sitzt derselbe Jarvis Cocker auf einem Sofa in Paris. "Künstler sind Menschen, die sich selbst erforschen, indem sie Werke schaffen", sagt er, mittlerweile 56, in Tweed und Cord, bärtig, rustikal-akademisch angegraut. "Dazu gehört auch, die eher unerwarteten Ideen durchzuarbeiten, auf die man dabei stößt. Vielleicht brauche ich deshalb immer so lang."
Man könnte glauben, der Cocker von 2020 habe ein weiteres, entscheidendes Mal auf den Rat gehört, den sein jüngeres Ich damals dem Volk in Glastonbury gab. Denn er hat es geschafft. Nach elf Jahren, in denen er viel gemacht hat, bloß keine eigene, neue Musik, gibt es wieder ein Album. Es ist komplex, verdreht, düster, witzig und absolut grandios.
Cocker ist als Ex-Sexsymbol ganz gut gealtert, vor allem wohl, weil er sich schon früh eine robuste, wenig zeitempfindliche Künstlerpersönlichkeit zugelegt hat. Der Sommer 1995 war ja auch die Dämmerung von Cool Britannia. Der neue Labour-Chef Tony Blair versprach eine Wiedergeburt des britischen Gemeinwesens, Mode-Ikonen wie Kate Moss und Alexander McQueen, Künstler wie Damien Hirst, Popstars wie die Spice Girls und Oasis standen für soziale Beweglichkeit, Optimismus. Und mittendurch stakste, wie ein Storch, Jarvis Cocker. Niemand warf ihm die Jahre auf der elitären Londoner Kunstschule vor, weil er davor so schön urig in einer schlechten Ecke von Sheffield gelebt und auf dem Fischmarkt alten Damen eloquent Makrelen angedreht hatte.
Er war der Außenseiter des Britpop, ein Eulenspiegel unter Koksköpfen
Bereits auf dem Gipfel seines Ruhms, mit Anfang 30, verglich das Magazin The Face ihn mit einem Geografielehrer. Er trug Brille und Opa-Hemden, sang mit bebendem Bariton die krudesten Sex- und Klassenkampfnovellen. Wahrte mitten im Wahnsinn die Bildungs-Working-Class-geschulte Arroganz des intellektuellen Emporkömmlings, so gut es ging. Ein Eulenspiegel unter Koksköpfen.
Das hieß auch: Für den Wechsel in die Hochkultur, nach dem betriebsbedingten Ende seiner Popkarriere, war Cocker bestens ausgerüstet. Zuletzt moderierte er jahrelang im BBC-Radio, war Lektor für den Verlag Faber & Faber, produzierte Reportagen und kleinere, eher im Kunstkontext verhaftete musikalische Arbeiten, während die alten Freunde und Feinde auf den Landsitzen weiter die Gitarren schraddelten. 2016 brachte er ein Programm auf die Bühne, bei dem ein Orchester Strawinsky und Mussorgski spielte und Cocker selbst märchenonkelig Gute-Nacht-Texte vorlas, bis auch die Letzten im Saal sanft eingeduselt waren.
"Natürlich habe ich das Glück, heute machen zu können, was ich will", sagt Cocker in Paris und fängt an, beim Verfassen der Gedanken mit seinen Riesenhänden die weinroten Hosenbeine auf- und abzustreichen, was eine gewisse, womöglich kreative Nervosität in den Raum zaubert. "Das einzige Argument dafür, neue Musik zu machen, waren bestimmte Ideen, die ich nicht mehr los wurde und die sich künstlerisch gar nicht anders ausdrücken ließen."
In seinem Hauptwohnort London gebe es ein Haus, erzählt er, in dem er jahrelang allen möglichen Plunder abgeladen habe, wenn er von Tourneen kam. 2019 entschloss er sich, die Zimmer zu räumen und den Müll der Jahrzehnte detailliert zu sichten. Im Kram fand er Objekte aus seiner Kindheit, wertvolle Artefakte, Meilensteine wie die Original-Eintrittskarte für die Party, auf der er (mit 16, so alt ist sein Sohn Albert heute) mit dem großen BBC-DJ John Peel ins Gespräch kam und so die Karriere von Pulp in Gang brachte. "Beim Kramen und Selektieren dachte ich oft: So ähnlich sieht es in meinem Kopf aus."
Jarv Is ... heißt die neue Band, mit drei Punkten am Ende wie bei "Liebe ist ..." Zwei Frauen, vier Männer, keine Prominenten außer ihm. Auch dieses Projekt war zuerst nur standesgemäße Performance-Kunst, 2017 auf einem Festival in Island, bis nach und nach die verfluchte Verbindlichkeit des Showbusiness einrieselte. Geoff Barrow vom Duo Portishead brachte Cocker auf die Idee, die Live-Mitschnitte einiger Auftritte als Basis für ein im Studio konstruiertes Album zu nehmen. "Beyond The Pale", die Platte von Jarv Is ..., entstand genau so: als wundersames Anti-Konzeptalbum, bei dessen Kreation die Musiker größtenteils noch gar nicht wussten, dass sie gerade eine Platte aufnahmen. Als Objet-trouvé-Kunst aus selbstgezimmerten Objekten, als hochvergeistigte Mülltrennung.
Ein Song über Höhlenmenschen wurde an einem Ort namens "Devil's Arse" aufgenommen
Das Ergebnis sind sieben lange Songs, düster glühender, verwinkelter, klaustrophobisch beleuchteter Pop, gleichermaßen beeinflusst vom deutschen Krautrock der Siebziger wie von den After-Hour-Sounds britischer Kornfeld-Raves. Die Musik lässt sich die Kunstherkunft kaum anmerken, hat nichts mit berufsjugendlichen Rock-Illusionen zu tun, den Schaumhymnen des Britpop oder den wohlfeilen Formatliedern, die auf Cockers zwei Soloalben von 2006 und 2009 zu hören waren.
Am Ende kreist natürlich auch hier wieder alles um seinen Quaderkopf, um die geraunte Stimme des Erzählers und Spötters, mit der Jarvis Cocker seine Songs nicht nur singt, sondern gewissermaßen moderiert. Schon seine Texte für Pulp zeichneten sich durch den fremden, oft fast bildungstouristischen Blick aus, der in den Kneipen-, Jugend- und Schlafzimmergeschichten weniger das Identifikationspotenzial suchte als die Verstörung. Mit Jarv Is ... erreicht er das nächste Level, singt in "House Music All Night Long" vom Warten auf die aushäusig feiernde Geliebte, das im Stillstand selbst zur morbiden Party wird, schaut im großartigen "Sometimes I Am Pharaoh" mit den Augen eines Fußgängerzonen-Pantomimen auf die komischen Heilserlebnisse, die Menschen bei Kirchenbesichtigungen widerfahren. "Must I Evolve?", der Höhepunkt von "Beyond The Pale", montiert die Geschichte einer Paarbeziehung und die Homo-sapiens-Evolution zur Doppelhandlung. Der Höhlenmenschen-Song wurde ausgerechnet beim Auftritt in einer Höhle namens Devil's Arse in Derbyshire mitgeschnitten, das gefällt Cocker besonders.
Dass sein Name seit fünf Jahren in der Unterstützerliste der Initiative Artists for Palestine UK steht, die im Schulterschluss mit der Kampagne BDS den Kulturboykott Israels fordert, darüber kann man mit Cocker erstaunlich offen diskutieren. Seine Haltung wirkt weniger politisch verbiestert als naiv, er bedankt sich sogar für den Hinweis auf den BDS, von dem er angeblich noch nie gehört hat, und betont, dass er vor allem für die (auch von BDS-Gegnern unterstützte) Hilfsorganisation Hoping For Palestine aktiv geworden sei. "Jedes System, das seinen Machtanspruch durch Spaltung und Unterdrückung zementiert, widerspricht meinem Gerechtigkeitssinn", fasst er unschlagbar universell zusammen. Und so bedauerlich es auch ist, dass Cocker sich hier die Füße verbrennt: Sein neues Album funktioniert als Kommentar zu den Gegenwartskrisen erstaunlich stark. "Beyond The Pale" tanzt und buchstabiert die Frage aus, was die Errungenschaften und Techniken menschlicher Kultur, im hohen Bogen von Höhlenmalerei bis House-Musik, aller antidemokratischen, wachstumsbesessenen Barbarei entgegenzusetzen haben. Ob das Absicht ist oder wieder nur ein Zufallsbild, das sich im Trubel des Kunstprozesses selbst gepuzzelt hat, sagt Cocker nicht, aber zum Glück ist es egal.
Beim Abschied rutscht eine dünne Kette hinter seiner Krawatte hervor, daran eine Miniaturfaust in Gold, die mit Zeige- und kleinem Finger den Heavy-Metal-Gruß zeigt. "Der Anhänger", erklärt er, "hält angeblich böse Gedanken fern. Kann nicht schaden." Der Weg von Jarvis Cockers sarkastischem Universum bis zur Metaphysik ist kürzer als gedacht.